An meine Mit-Gefangenen

 

 

Ihr habt - wie ich - euch selber eingesperrt

in das Gefängnis, das ihr euch gebaut habt,

das, was ihr euer Leben nennt.

Wisst ihr denn nicht:

Die Zellentür steht offen.

Ihr müsst nur durch sie durchgeh'n -

so, wie jetzt ich.

Hier hält mich nichts.

Ich sitz nicht länger hier die Strafe ab,

die ich verhängt hab' selber über mich.

Ich geh' jetzt raus aus dieser Enge

ins weite, offene Land zurück.

Ich kehr zurück aus meinem kleinen

ins eine, große, ganze Leben.

 

Wie, ihr wollt gar nicht weg?

Ihr sagt: "Hier ist 's doch schön.

Wie 's hier ist, wissen wir.

Wer weiß, wie 's draußen ist."

Nun gut, dann bleibt halt hier.

Ich find es draußen schöner.

Und geh' jetzt raus.

Dort ist mehr Raum, mehr Licht.

 





 

Kommentar:
 

Ich gehe raus,

doch bin ich noch nicht draußen.

Ich sterbe, doch

ich bin noch nicht gestorben.

Ich löse meine Ketten, doch

ich bin noch nicht entkettet.

Ich geh' ins Licht, jedoch

ich bin noch nicht erleuchtet.

Ich bin schon Blüte,

doch bin ich noch nicht Frucht.

 

Doch Blüte sein, das ist bereits genug.

Denn Blüte sein, das ist bereit sein,

bereit sein, Frucht zu werden,

es ist bereits die Frucht.

Daher ist Blüte sein bereits genug.

 

"Sannyas ist eine Blüte, ein Erblühen des menschlichen Bewusstseins.

Ein Baum trägt Blüten und zeigt damit, dass er bald seine Vollendung erreicht.

Früher oder später entstehen daraus Früchte.

Die Blüten sind ein Zeichen, dass der Baum bereit ist, Früchte zu tragen.

Der Baum ist reif, ist erfüllt.

Blüten sind einfach ein Ausdruck des Entzückens, bevor der Baum Früchte trägt,

und die Früchte sind die Erfüllung.

 

Dann hat der Baum seinen Höhepunkt erreicht und ist auf dem Crescendo seines Seins angelangt.

Ein blühender Baum ist glücklich und entzückt,

sein Dasein war nicht sinnlos, er wird Früchte tragen.

 

Sannyas ist ein Erblühen und Erleuchtung ist die Frucht.

Sannyas heißt, dass dein innerer Baum nun zu dem Punkt gekommen ist, wo der Sprung, die Explosion passieren wird.

Bevor das geschieht, genießt das Wesen alles in vollen Zügen.

Du bist erfüllt, es war nicht vergebens.

 

Viele, viele Leben hast du gewartet, und jetzt geschieht es.

Ein unendlich langes Warten, unendlich viel Geduld...

Aber es war sinnvoll.

Jetzt hast du es erreicht, du bist angekommen.

Das ganze Wesen blüht auf."

 

(Osho, Mein Weg: der Weg der weißen Wolke)

 

 

 

Doch leider warnt mich die bisherige Erfahrung:

"So einfach wird das nicht.

Du bist noch nicht so weit.

Du bist noch nicht im Sannyas.

Du bist noch keine Blüte,

sich sicher: "Ich werd' Frucht sein".

Du bist von Frost bedroht,

von Dürre und von starkem Regen.

 

Hast du denn alles, was aus Trennung lebt

bereits beendet, los gelassen,

schon in dem aufgegeben,

schon zu dem aufgehoben,

was nicht zu trennen ist?

Wenn ja, bist du bereit zur Frucht.

Wenn ja, bist du bereits die Frucht.

Wenn nicht, bist du noch nicht bereit.

 

Du glaubst, dass du gesprungen bist?

Du bist noch nicht gesprungen.

Du denkst: "Jetzt mach' ich endlich Ernst,

hab' nun den Mut, das wirklich ernst zu nehmen,

was ich doch schon so lange weiß als Wirklichkeit."

Du täuschst dich, spielst dir immer noch was vor.

Denn du spielst weiter halbherzig dein leichtes Spiel,

was dich zwar nicht viel kostet, doch dir auch nicht viel bringt.

 

Solang' du noch Getrenntes wünschst,

du dir noch dein Getrennt-Sein wünschst,

kannst du 's nicht einfach lassen.

Solang' du noch nicht wunschlos bist,

solang' du dir noch etwas wünschst,

was sich nicht selbst erfüllt im Jetzt,

musst du es dir erfüllen,

musst es erstreben in der Zeit.

 

 

Was du noch wünschst, kannst du dir nicht verbieten,

nur weil du denkst: "Ich will nicht mehr getrennt sein."

Du bist getrennt, du willst getrennt sein.

Wer seine Wünsche unterdrückt, der unterdrückt sich selbst.

Du willst sie ja, du bist sie ja.

Du bleibst getrennt, auch wenn du sie bekämpfst.

Denn du bekriegst dich selbst.

Wie willst du denn im Ganz-Sein Frieden finden,

solang' du dich bekämpfst in einem Bürgerkrieg?"

 

 

 

 

Und die Erfahrung hat ja Recht:
 

Es gibt ja einen wichtigen Unterschied:

Im Raum zu fallen, abgrundtief,

das ist nicht umkehrbar:

Was einmal fällt, das steigt nicht wieder auf,

fällt weiter, immer weiter,

ist nicht mehr anzuhalten,

und nichts fängt es mehr auf.

Jedoch im Wie zu fallen,

das ist leicht störbar, stets gefährdet.

Dafür muss ich mich immer wieder neu entscheiden.

Und jedes Mal, wenn ich mich falsch entscheide,

dann hält das Fallen an,

dann hört es sofort auf.

Und ich muss wieder neu von vorn beginnen.

 

Mit jeder Frage "wohin will ich geh'n",

anstatt der Schritt zu sein, der sich geht irgendwo,

verwelkt das frische Immer-Grün,

verblasst das frohe Rot des Wie.

 

Mit jedem Foto, das ich mache,

ich machen will für mich,

um, was ich sehe, für die Zukunft festzuhalten,

halte ich an, halt' fest und gebe Dauer dem,

was sich an-dauernd sieht als dauer-frei,

was anhält nirgendwo und was nie bleibt.

Der sanfte Strom des Wie, der zeitlos fließt,

erstarrt erneut zum harten Eis der Zeit.

 

Und jede Reise, die ich für mich plane,

aus angehäuftem Wissen klug und sorgsam wählend,

zerreißt sofort den zarten, weichen Faden,

mit dem sich webt ihr wunderschönes Kleid

das Wie, das ganz all-ein sich selbst, nichts anderes kennt.

 

 

Nun gut, das stimmt ja alles:

Ich geh' noch oft fahrlässig-leichtsinnig -

und gegen besseres Wissen - ,

freiwillig in den Knast zurück

und muss ihn immer wieder neu verlassen.

Das Gute ist: Ich kann es auch.

Die Zellentür wird nie verschlossen,

sie steht ja ständig offen.

Publiziert am: Dienstag, 09. Mai 2023 (244 mal gelesen)
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