Im Tal der Schlangen
Ich gehe durch das Tal der Schlangen - ganz alleine,
von niemandem begleitet und geleitet,
auf meine Augen, meine Füße, einen Stock vertrauend.
Die Anderen geh'n durch andere Schlangentäler -
oft auch gemeinsam und mit kund'gem Führer.
Es gibt so viele Schlangen auf dem Weg.
Gefährlich sind nicht die, die schmerzvoll beißen.
Ich spür' den Biss, greif' nach dem Gegenmittel.
Nicht harmlos sind die, deren Biss ist sanft und sacht.
Denn ich bin schutzlos gegen unbemerktes Gift,
das langsam wirkend stetig mich ermüdet,
den Gang mir schwer macht und mich vielleicht lähmt.
Kommentar:
Nun, es gibt nicht nur Schlangenbisse.
In Rumis Matnawi gibt es auch unzählige Netze, in denen wir uns als gierige, hungrige Vögel verfangen.
Und eine Maus:
"Wir werden immer wieder neu gefangen, in neuen Fallen,
obwohl wir doch ein Falke werden oder Gottesvogel.
O Du Bedürfnisloser, Du befreist uns immer wieder,
und immer wieder geh'n wir in die Falle.
Mit Weizen füllen wir den Speicher
und dann verlieren wir das ganze Korn.
Warum bemerken wir denn nicht mit dem Verstand,
dass dieser Schaden angerichtet wurde von der listigen Maus?
Sie hat ein Loch gebohrt in unseren Speicher
und ihn mit ihrer Arglist ausgeplündert.
Verhinder' ihre Missetaten doch zuerst, o Seele,
danach kannst du dann eifrig Weizen sammeln!
Wenn es in unserem Speicher keine dieb'sche Maus gibt,
wo ist denn dann das Korn von vierzig Jahren Arbeit?
Warum wird unser ehrliches Bemühen Tag für Tag
nicht Stück für Stück in unserem Speicher aufgehoben?
Manch feur'ger Stern sprang ab vom heißen Eisen
und offen nahm ihn auf das brennende Herz.
Doch ein verborgener Dieb greift in der Dunkelheit
mit seinen Fingern nach den Sternen.
Er löscht sie einen nach dem anderen aus,
damit am Himmel keine Lampe leuchtet."
(frei nach dem Matnawi, 1. Buch, 374ff)
Nun, das klingt ja alles wenig ermutigend:
Netze, Fallen, Diebe, die Speicher ausplündern und Sterne auslöschen.
Doch Rumi schließt diese Zeilen ab mit einem hoffnungsvollen, glaubensstarken Vers:
"Doch wenn Du bei uns bist, dann ist nichts schwierig,
selbst wenn auf unserem Wege tausend Fallen liegen."
Und an einer anderen Stelle des Matnawi enthüllt er auch einen Grund dafür:
Die unzähligen Hindernisse sind gar nicht so wichtig.
Sie halten uns nur auf für eine kurze Zeit, verzögern unseren Aufstieg, doch sie werfen ja nicht endgültig zurück.
Der Weg des Lebens ist auf Dauer ein Nach-Oben-Sterben, das letztlich nicht behindert werden kann:
Ich starb als Stein,
wuchs dann als Pflanze auf.
Ich starb als Pflanze, nahm
darauf als Tier den Lauf.
Ich starb als Tier und ward ein Mensch.
Was fürcht' ich dann,
weil ich durch Sterben nie geringer werden kann.
Wenn ich einst werd' als Mensch gestorben sein,
wird eines Engels Flügel mir erworben sein.
Und selbst als Engel muss ich sein geopfert auch,
zu werden, was ich nicht begreif':
ein Gotteshauch.
(Rumi, Masnawi, frei nach der Übersetzung von Friedrich Rückert)
Publiziert am: Donnerstag, 09. März 2023 (216 mal gelesen)
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