Ich seh' nur, was ich weiß, schon kenn' -

Sonst überseh' ich es vielleicht.

Ich seh nicht mehr, was ich benenn,

wenn mir der Name statt des Sehens reicht.

 

 

Kommentar:

 

"Ich seh nur, was ich weiß" ist der Slogan eines bekannten Reisebuchverlags, der ja unmittelbar einleuchtet:

Wenn ich mit dem Auto durch ein unbekanntes Land fahre und nicht weiß, dass es zwei Kilometer abseits der Straße eine Sehenswürdigkeit gibt, die sich anzusehen lohnt, fahre ich vorbei.

Um zu wissen, dass es sie gibt, muss ich ihren Namen von irgend Jemandem gehört oder irgendwo gelesen haben.

Das ist die Sonnenseite der Namen - im Reich der Zeit, im Land der Wege.

 

Folgendes ist die Schattenseite - im Reich der Nicht-Zeit, im Land ohne Wege:

Namen können an die Stelle des Sehens treten - etwas in der Vergangenheit Erstarrtes an die Stelle der lebendigen Gegenwart.

Unzählige Male betrat ich meinen Therapieraum und glaubte, dort "meinen" Korbsessel und "meinen" Tisch zu sehen. Doch ich sah nicht. Ich erkannte Dinge wieder, denen ich irgendwann einen Namen gegeben hatte, auf die ich ein Etikett geklebt hatte. Dieses Wiedererkennen des Benannten ist beliebig wiederholbar. Ich denke dann, dass ich den Sessel schon hundert oder tausend mal gesehen habe, immer denselben Sessel. In Wirklichkeit habe ich ihn noch nie gesehen.
Wenn ich wirklich sehe, merke ich, dass das, was ich jetzt sehe, erstmalig und einmalig ist, dass ich es noch nie vorher so gesehen habe und auch nie wieder so sehen werde. Das, was ein Korbsessel zu sein scheint, wird dann zu etwas, was in nicht wiederholbarer Weise das Licht reflektiert und durch die Löcher im Geflecht den Hintergrund durchscheinen lässt, einmalig und erstmalig. Schon dann, wenn das Licht sich etwas ändert, seh ich etwas Anderes; auch wenn ich den Kopf ein Bischen bewege.

 

In der Nicht-Zeit sieh, les keine Etiketten!