Im Säulenwald

(Die Mezquita)


 

Einst weitete die Halle offen sich zum Hof.

Auf die Orangen in ihm sperrte nichts die Sicht.

Vermauert und vergittert sind die Tore nun.

Das Innere liegt abgetrennt im Dämmerlicht.

 

Einmalig ist hier jeder einzelne Baum,

und doch ist er für sich allein nicht wichtig.

Was zählt, ist hier der Wald, der ganze Raum.

Und jeder Ort hier, der ist passend, ist gleich richtig.

 

Ich wandel ruhig stetig durch den Säulenwald.

Der wandelt gleichfalls sich mit jedem neuen Schritt.

Das Feste bleibt hier nicht erstarrt in Dauer.

Die Marmorsäulen wandern mit mir mit.

 

Sie schieben sich verwirrend voreinander,

verstellen und behindern so den Blick;

entgleiten schließlich seitwärts meinen Augen.

Um anderen Platz zu schaffen, fallen sie zurück.

 

Ich suche keine Richtung, würd' auch keine finden.

Der Wald kennt weder Haupt- noch Nebenpfade.

Ich geh`nicht einen Weg, mach ziellos Schritte.

Es gibt hier keinen Fluchtpunkt, keine Zielgerade;

 

gibt nicht nur eine Perspektive, es gibt viele.

Es ist daher ganz gleich, wohin ich geh'.

Rechts, links und vor mir nichts als Doppelbögen.

Ich komme an schon da, wo ich grad steh'.

 

Hier fesselt mich nicht mehr der Zeit Gewalt.

Die Zeit, sie löst sich auf, sie wird zum Raum.

Hier ist die Leere eins mit der Gestalt.

Die Formen sind so flüchtig wie im Traum.

 

 

 

Kommentar:

 

"Ihr habt etwas zerstört, was einmalig war, um etwas zu bauen, was es an vielen Orten gibt", soll der deutsche Kaiser Karl V. und spanische König Carlos I. gesagt haben, als ihm bewusst wurde, was der Einbau einer christlichen Kathedrale in dir angerichtet hatte.

 

Doch hier irrte der Kaiser, der weitgereisteste Mann seiner Zeit. Du warst vor deiner Verschandelung nicht einmalig. Du warst eine Hofmoschee, wie es viele gab - vielleicht die größte und die schönste. Du warst die prima inter pares, die erste unter gleichen. Doch einmalig warst du nicht.

 

Paradoxerweise bist du jedoch gerade durch diese Verstümmelung und Verunstaltung tatsächlich einmalig geworden. Auch anderswo stehen Bauwerke aus verschiedenen Kulturen dicht nebeneinander. Doch nirgendwo sonst gibt es solches Ineinander, kann man daher den Kontrast zwischen islamischer und christlicher Baukunst, zwischen abend- und morgenländischer Kultur deutlicher und klarer erfassen.

 

Du warst als Mezquita reiner Raum, Raum an sich, nicht bestimmt durch eine Richtung. Die Kathedrale in dir strebt nach dem Muster einer römischen kaiserlichen Basilika zu einem zentralen Punkt, dem Thron des Kaisers oder dem Altar. In dir stößt die ungerichtete Gleichwertigkeit der Moschee unvermittelt schroff gegen die bevorzugte Mittigkeit der Kathedrale. In deiner widersprüchlichen Gestörtheit bist du einmalig: die Mezquita-Kathedrale.

 

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Publiziert am: Samstag, 12. Februar 2022 (596 mal gelesen)
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