Die schöne Rote
Du überthronst mit Majestät die Maurenstadt.
Al Hambra nennst du stimmig dich, die rote.
Denn rötlich glühst du auf im letzten Licht.
Und selber wirst du herrlich überkrönt
vom Glanz der weiß beschneiten Sierra.
Dein karges Äußeres verbirgt die innere Pracht:
die lückenlos verzierten, stuckgeschmückten Wände;
die luftigen Arkaden deiner lichten Höfe,
vom Plätschern vieler Brunnen frisch belebt,
wo kühles Wasser aus den Bergen leise rieselt
durch schmale Rinnen in die schattigen Säle;
die "Stalaktiten" deiner Decken, Nischen, Bögen,
den einheitlichen Raum in Vielfalt lösend,
Gewölbe, die nicht steigen, die vom Himmel tropfen,
das irdische Naturgesetz verkehrend.
Die schlanken Säulen in dir sind nicht römisch.
Sie dienen nicht zum Tragen schwerer Last.
Frei schwingen sie sich anmutig empor,
ein freudiges Spiel entspannter Leichtigkeit.
Zu recht berühmt sind deine Azulejos;
geflochtene Bänder, die trotz strenger Zahlenordnung
nicht überschaubar für das Auge sind,
begrenzend dicht gefügte Flächen formen,
gezackte Sterne, durch den Lauf der Linien
gebildet und verbunden miteinander.
Du Perle von Granada, du ruhst zauberhaft
mit roten Mauern über weißen Maurenhäusern!
Hättst du dazu noch schwarzes Ebenholz,
du wärst die makellose Schwester von Schneewittchen.
Jedoch sei nicht betrübt, es fehlt dir nichts.
Du trägst ja einen Kranz aus üppigen Gärten.
Mit diesem grünen Kleid bist du einmalig,
bist du vollkommen, unvergleichbar schön.
Du bist ein Wunder, das uns staunen lässt.
Was ist erhebender als dich zu seh'n?
Ein spanisches Sprichwort sagt:
Quién no ha visto Granada,
ha visto nada.
(Wer Granada nicht geseh'n hat,
der hat nichts geseh'n.)
Und damit ist sicher nicht nur, doch vor allem
die Alhambra gemeint,
die Rote.
Kommentar:
Ein reicher Vorrath von Wasser, durch alte maurische Wasserleitungen aus dem Gebirg hierher geführt, ist im ganzen Palast vertheilt, füllt seine Bäder und Fischteiche, funkelt in Strahlen in seinen Sälen oder murmelt in Röhren das Marmorpflaster entlang.
Wenn es der königlichen Wohnung seinen Tribut gebracht und deren Gärten und Weiden besucht hat, fließt es den langen Weg, der in die Stadt führt, nieder, in kleinen Bächen klingend, in Brunnen strömend und ein stetes Grün in den Laubengängen erhaltend, welche den ganzen Hügel der Alhambra umhüllen und verschönern.
Nur wer in dem heißen Klima des Südens gewohnt hat, kann die Freuden einer Wohnung schätzen, welche die wehende Kühlung des Gebirgs und die Frische und Grüne des Thals verbindet. Während die Stadt unten in der Nachmittagshitze schmachtet und die ausgedürrte Vega vor dem Auge zittert, spielen die zarten Lüfte von der Sierra Nevada durch diese hohen Säle und bringen die Süße der Gärten umher mit sich. Alles ladet zu jener trägen Ruhe, dem Glücke des südlichen Klima’s, ein;
und während das halbgeschlossene Auge von beschatteten Balkons auf die glänzende Landschaft hinaus sieht, wird das Ohr vom Rauschen des Laubwerks und dem Murmeln der fließenden Wasser eingewiegt.
(Washington Irving, Erzählungen von der Alhambra)
Einige Bilder:
Publiziert am: Sonntag, 30. Januar 2022 (647 mal gelesen)
Copyright © by Rudolfo Kithera
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