Sicher ruh'n in Wirklichkeit
Da sein in Vollkommenheit
Lös’ das, was da ist, ab von allem,
was nicht mehr ist, was noch nicht ist!
Lass Wirkliches nicht schein-verbunden sein
mit etwas, das nur scheinbar wirklich ist!
Lass das, was da ist, einfach in sich selber ruh’n,
frei von der Zeit, von Zukunft und Vergangenheit!
Dies Ruhen in sich selbst, das ist die Wirklichkeit.
Missbrauche das, was jetzt ist, nicht als Mittel,
um zu erreichen, was noch in der Zukunft liegt,
was vielleicht möglich ist, jedoch vielleicht nicht wirklich wird!
Das, was du sicher weißt und hast, ist nur, was jetzt schon da ist.
Gib es nicht auf, opfer es nicht für ungewisse Zukunft!
Versäume für die Zukunft nicht die Gegenwart!
Bleib da, wo du Gewissheit hast und Sicherheit!
Das, was jetzt ist, hat seinen eigenen Wert,
hat seinen Zweck und Sinn nur in sich selbst.
Es ist nicht da, um anderes zu erreichen,
nicht dafür da, dass anderes möglich wird.
Es ist vollkommen für sich selber da,
weil es schon da ist in Vollkommenheit.
Kommentar:
Ein anschauliches Beispiel dafür, die Gegenwart für die Zukunft zu opfern, gibt uns Udo Jürgens in folgendem Songtext:
Lebe nicht nur (nicht mehr als nötig) darin, für Andere etwas zu tun, für eine bessere Lebensqualität später!
Sonst verpasst du, versäumst du, was zwischen dir und Anderen in der Gegenwart möglich ist. Du antwortest nicht auf das, was das Jetzt dir anbietet, was das Jetzt von dir fordert.
Lebe auch (oder mehr) darin, mit Anderen etwas zu tun, mit einer möglichst guten Lebensqualität jetzt !
Drei wunderbare Antworten
Eines Tages begab es sich, dass der Kaiser zu der Meinung gelangte, er müsse nur die Antwort auf drei Fragen wissen, dann könne er nie mehr in die Irre gehen.
Welche Zeit ist die beste für jede Sache?
Welche Menschen sind die wichtigsten, mit denen es zusammenzuarbeiten gilt?
Welches ist die wichtigste Sache, die man stets tun sollte?
Der Kaiser gab also in seinem Reich eine Bekanntmachung heraus, die folgendes besagte: Jeder, der ihm diese Fragen beantworten könne, solle reichlich belohnt werden. Darauf machten sich viele, die diese Bekanntmachung lasen, sogleich auf den Weg zum Palast, und jeder hatte eine andere Antwort.
So sagte einer als Antwort auf die erste Frage, der Kaiser solle sich einen genauen Zeitplan machen und jede Stunde, jeden Tag, jeden Monat und jedes Jahr für bestimmte Aufgaben festlegen und diesen Plan dann genauestens befolgen. Nur so könne er hoffen, jede Aufgabe zur rechten Zeit zu erfüllen.
Ein anderer meinte, es sei unmöglich, alles im Voraus zu planen, der Kaiser solle daher alle nichtigen Vergnügungen lassen und seine Aufmerksamkeit auf jedes einzelne Ding richten, um so zu wissen, wann er was tun solle.
Ein weiterer bestand darauf, dass der Kaiser allein gar nicht die nötige Voraussicht und Befähigung haben könne, zu entscheiden, wann jede Aufgabe zu tun sei; was er wirklich brauche, sei die Einrichtung eines Rates von Weisen, deren Ratschläge er dann befolgen solle. Wiederum ein anderer gab zu bedenken, dass gewisse Angelegenheiten eine sofortige Entscheidung forderten und es gar keine Zeit für lange Beratung gebe; um im Voraus zu wissen, was geschehen würde, solle er Zauberer und Wahrsager befragen.
Auch in der Beantwortung der zweiten Frage herrschte keine Übereinstimmung.
So sagte einer, der Kaiser solle all sein Vertrauen in Verwalter setzen, ein anderer drängte darauf, sich auf Priester und Mönche zu stützen, andere empfahlen Ärzte. Und wieder andere setzten ihr Vertrauen in Krieger.
Eine ähnliche Vielfalt von Antworten brachte die dritte Frage.
Einer sagte, die Wissenschaften seien das Wichtigste, womit es sich zu befassen gelte. Andere bestanden auf der Religion. Und wieder andere behaupteten, das Wichtigste sei die Kriegskunst.
Der Kaiser war jedoch mit keiner der Antworten zufrieden, und so gab es keine Belohnung.
Nachdem er einige Nächte mit Nachdenken zugebracht hatte, beschloss der Kaiser, einen Einsiedler aufzusuchen, von dem es hieß, er sei erleuchtet. Der Kaiser wollte dem Einsiedler die drei Fragen stellen; und da er wusste, dass der Einsiedler die Berge nie verließ und bekannt dafür war, nichts mit wohlhabenden oder mächtigen Menschen zu tun haben zu wollen und deshalb nur die Armen zu empfangen, verkleidete sich der Kaiser als einfacher Bauer. Seinen Dienern befahl er, am Fuße des Berges auf ihn zu warten, während er sich allein auf den Weg machte, den Einsiedler zu suchen.
Schließlich erreichte er die Wohnstatt des heiligen Mannes. Der Einsiedler war gerade dabei, einen Garten anzulegen. Er sah den Fremden, begrüßte ihn mit einem kurzen Kopfnicken und grub weiter. Offensichtlich fiel ihm die Arbeit schwer. Er war ein alter Mann und jedes Mal, wenn er seinen Spaten in den Boden stieß, um Erde auszuheben, atmete er schwer.
Der Kaiser näherte sich ihm und sprach: »Ich bin hierher gekommen, um deine Hilfe bei drei Fragen zu erbitten. Welche Zeit ist die beste für jede Sache? Welche Menschen sind die wichtigsten, mit denen es zusammenzuarbeiten gilt? Und was ist die wichtigste Sache, die man stets tun sollte?«
Der Einsiedler hörte aufmerksam zu, klopfte dem Kaiser aber nur auf die Schulter und grub weiter. Der Kaiser sagte: »Du musst müde sein, lass mich dir dabei helfen!« Der Einsiedler dankte ihm, gab dem Kaiser den Spaten und setzte sich zum Ausruhen auf die Erde.
Als er zwei Beete umgegraben hatte, hielt der Kaiser inne, wandte sich an den Einsiedler und wiederholte seine drei Fragen. Der Einsiedler antwortete ihm immer noch nicht, stand statt dessen auf, deutete auf den Spaten und sagte:
»Ruh dich auch einmal aus! Ich kann jetzt wieder weitermachen. « Der Kaiser fuhr jedoch fort zu graben. Es verging eine Stunde und eine zweite. Schließlich begann die Sonne hinter den Bergen unterzugehen. Der Kaiser setzte den Spaten nieder und sagte zu dem Einsiedler: »Ich kam her, um dich zu fragen, ob du mir meine drei Fragen beantworten kannst. Wenn du jedoch keine Antworten für mich hast, so lasse es mich wissen, damit ich mich auf den Weg nach Hause machen kann!«
Der Einsiedler hob seinen Kopf und fragte den Kaiser:
»Hörst du dort drüben jemanden rennen?« Der Kaiser wandte seinen Kopf. Beide sahen einen Mann mit einem langen weißen Bart aus einem Waldstück hervortreten und auf sie zulaufen. Er hielt beide Hände gegen eine blutende Wunde an seinem Bauch gepresst. Vor dem Kaiser fiel der Mann ohnmächtig zu Boden und stöhnte. Sie öffneten die Kleider des Mannes, und der Kaiser und der Einsiedler sahen, dass der Mann eine tiefe Bauchwunde hatte. Der Kaiser reinigte die Wunde sorgfältig und verband sie mit seinem eigenen Hemd, das sich sofort mit dem Blut vollsaugte. Er wrang das Hemd aus und verband ihn ein zweites Mal. Damit fuhr er fort, bis die Wunde aufhörte zu bluten.
Schließlich erlangte der Mann sein Bewusstsein wieder und bat um einen Schluck Wasser. Der Kaiser eilte zum Bach und brachte einen Krug mit frischem Wasser. Inzwischen war die Sonne untergegangen, die Nachtluft war kalt. Der Einsiedler half dem Kaiser, den Mann in seine Hütte zu tragen und auf sein Bett zu legen. Der Mann schloss die Augen und lag ganz ruhig da. Der Kaiser war nun sehr müde geworden nach diesem langen Tag, angestrengt vom Aufstieg auf den Berg und vom Graben im Garten. Er lehnte sich gegen den Türpfosten und schlief ein. Als er erwachte, war die Sonne schon über den Bergen aufgegangen. Für einen Augenblick wusste er nicht, wo er war und warum er gekommen war. Er wandte seinen Blick zum Bett und sah, dass auch der Verwundete verwirrt um sich schaute. Als dieser den Kaiser erblickte, schaute er ihn eindringlich an und sagte mit kaum hörbarem Flüstern: »Vergebt mir!«
»Was hast du getan, das ich dir verzeihen sollte?« fragte der Kaiser.
»Ihr kennt mich nicht, Eure Majestät, aber ich kenne Euch. Ich war Euer eingeschworener Feind, und ich hatte gelobt, mich an Euch zu rächen, denn im letzten Krieg habt Ihr meinen Bruder getötet und meinen Besitz an Euch gebracht. Als ich hörte, dass Ihr allein auf den Berg kommen würdet, um den Einsiedler aufzusuchen, beschloss ich, Euch auf dem Rückweg aufzulauern und Euch zu töten. Nachdem ich jedoch lange gewartet hatte und immer noch nichts von Euch zu sehen war, verließ ich meinen Hinterhalt, um Euch zu suchen. Statt auf Euch traf ich jedoch auf Eure Diener, die mich erkannten und mich verwundeten. Glücklicherweise konnte ich entfliehen und eilte hierher. Hätte ich Euch nicht angetroffen, wäre ich jetzt sicherlich tot. Ich hatte vor, Euch zu töten, und nun habt Ihr mir stattdessen das Leben gerettet! Ich bin beschämt und weiß gar nicht, wie ich meine Dankbarkeit in Worte fassen kann. Wenn ich am Leben bleibe, gelobe ich, Euch für den Rest meines Lebens zu dienen, und ich werde meine Kinder und Kindeskinder anweisen, es ebenso zu tun. Verzeiht mir, ich bitte Euch!«
Der Kaiser war überaus erfreut darüber, wie leicht er sich mit seinem früheren Feind aussöhnen konnte. Er vergab diesem Mann nicht nur, sondern versprach, ihm all seinen Besitz zurückzugeben und seinen Leibarzt und seine Bediensteten zu ihm zu schicken, damit sie ihn bis zur völligen Genesung pflegten. Nachdem er seinen Dienern aufgetragen hatte, den Mann nach Hause zu bringen, wollte der Kaiser ein letztes Mal mit dem Einsiedler sprechen. Denn bevor er in seinen Palast zurückkehrte, wollte er seine drei Fragen noch einmal wiederholen. Als er beim Einsiedler ankam, war dieser gerade dabei, Samen in die Erde zu säen, die sie am Tag zuvor umgegraben hatten.
Der Einsiedler stand auf und schaute den Kaiser an:
»Aber Eure Fragen wurden doch bereits beantwortet.« »Wie das?« fragte der Kaiser voller Staunen.
»Hättet Ihr gestern nicht Mitleid mit meinem Alter gehabt und mir geholfen, diese Beete anzulegen, hätte Euch der Mann auf dem Rückweg überfallen. Dann hättet Ihr es tief bereut, nicht bei mir geblieben zu sein. Die wichtigste Zeit war also die Zeit, in der Ihr die Beete ausgehoben habt, die wichtigste Person war ich, und die wichtigste Aufgabe bestand darin, mir zu helfen. Als später der Verwundete hierher gerannt kam, war die wichtigste Zeit die, die Ihr mit dem Verbinden der Wunde zubrachtet, denn wenn Ihr ihn nicht gepflegt hättet, wäre er gestorben, und Ihr hättet die Möglichkeit versäumt, Euch mit ihm auszusöhnen. Wie schon zuvor war die wichtigste Person also er, und die wichtigste Aufgabe bestand darin, seine Wunden zu versorgen. Denkt daran, es gibt nur eine wichtige Zeit, und die ist jetzt. Der gegenwärtige Augenblick ist die einzige Zeit, über die wir verfügen. Und die wichtigste Person ist immer der Mensch, mit dem Ihr gerade beisammen seid, der unmittelbar vor Euch steht, denn wer weiß, ob Ihr in Zukunft noch mit irgendeinem Menschen zu tun haben werdet? Und die wichtigste Aufgabe besteht darin, den Menschen an Eurer Seite glücklich zu machen. Das allein ist Sinn und Zweck des Lebens.«
Leo Tolstoj
Antworten auf den Ruf der Gegenwart
Wenn "es nur eine wichtige Zeit gibt, und die ist jetzt", dann ist es falsch, die Lebensqualität der augenblicklichen Erfahrung zu opfern, um eine zukünftige zu erreichen. Die jetzige Erfahrung ist immer Selbstzweck, nicht Mittel zum Zweck. Leben ist eine Premiere, keine Generalprobe. Und die jetzige Begegnung mit dem Menschen, der mir gegenübersteht, mich ruft und auf meine Antwort wartet, darauf wartet, dass ich meiner Ver-Antwort-ung gerecht werde, ist immer Selbstzweck, nicht Mittel zum Zweck. Und wenn ich es versäume, zu antworten, verpasse ich die Chance, die diese Begegnung bietet, verfehle damit den Sinn und Zweck meines Lebens; denn der Sinn und Zweck meines Lebens ist jetzt.
"Ein Lehrer der Torah (des Gesetzes) stand auf und versuchte, ihm eine Falle zu stellen, indem er fragte:
"Rabbi, was soll ich tun, um das ewige Leben zu erwerben?"
Doch Jeshua sagte zu ihm: "Was steht geschrieben in der Torah? Wie liest du es?"
Er antwortete: "Du sollst Adonai, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Verstand, und deinen Nächsten wie dich selbst."
"Das ist die richtige Antwort", sagte Jeshua. "Tu das, und du wirst das Leben haben."
Doch er, der sich rechtfertigen wollte, sagte zu Jeshua:
"Und wer ist mein Nächster?"
Jeshua nahm die Frage auf und und antwortete:
"Ein Mann stieg von Jerushalayim nach Jericho hinab, als er von Räubern überfallen wurde. Sie zogen ihn nackt aus, schlugen ihn, gingen dann fort und ließen ihn halbtot liegen. Zufällig kam ein Priester die Straße entlang, doch als er ihn sah, ging er auf der anderen Seite an ihm vorbei. Ebenso ging ein Levit, der an den Ort kam, auf der anderen Seite vorbei.
Doch ein Mann aus Samaria, der auf der Reise war, stieß auf ihn, und als er ihn sah, wurde er von Mitleid erfüllt. So ging er zu ihm, tat Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann setzte er ihn auf seinen Esel, brachte ihn zu einem Gasthaus und sorgte für ihn. Am nächsten Tag nahm er den Lohn von zwei Tagen, gab ihn dem Wirt und sagte: "Sieh nach ihm, und wenn du mehr verbrauchst als dies, werde ich es dir zurückzahlen, wenn ich wiederkomme." Wer von diesen Dreien scheint dir zum Nächsten des Mannes, der unter die Räuber fiel, geworden zu sein?"
Er antwortete: "Der , der ihm Barmherzigkeit erwies."
Jeshua entgegnete ihm:
"Geh und tu, wie er getan hat!"
(Lk 10, 25-37)
In dieser Geschichte, die dir, lieber Leser, vielleicht recht bekannt vorkommt, treffen drei Menschen auf dem Weg, dem sie folgen, den sie verfolgen, auf den wichtigsten anderen Menschen, der ihnen in diesem Fall nicht gegenüber steht, sondern als hilfsbedürftiges, ohnmächtiges Gewaltopfer gegenüber liegt. Alle drei haben die Chance, in dieser Begegnung ihrem Leben Sinn und Bedeutung zu geben. Doch zwei von ihnen verpassen ihre Chance. Sie antworten nicht auf den stummen Schrei des Opfers. Sie gehen vorbei. Sie sind zu sehr mit der Zukunft beschäftigt, ihrer Zukunft, haben zu sehr ihre Pläne und Ziele im Kopf, die sie nicht stören lassen wollen. Sie wollen schnell weiter, wollen sich nicht aufhalten lassen. Da sie die Zukunft zu wichtig nehmen, hören sie nicht auf den Ruf der Gegenwart. Sie gehen vorbei, und damit geht auch ihre Chance, diesen Augenblick ihres Lebens mit Sinn zu füllen, ungenutzt vorbei. Nur der Samariter ist offen genug für die Gegenwart, um auf den Ruf des wichtigsten anderen Menschen zu antworten.
Nur nebenbei, liebe Leserin, möchte ich dich darauf aufmerksam machen, dass Jeshua der Messias, der dir vielleicht besser unter dem Namen Jesus Christus bekannt ist, in seiner Antwort die Perspektive, den Ausgangspunkt, von wo aus der Fragende schaut, umkehrt. Der Gesetzeslehrer stellt die Frage: "Wer ist denn mein Nächster?" Darin drückt sich ein Denken aus, bei dem ich im Mittelpunkt stehe und alle anderen Menschen in konzentrischen Kreisen, näher oder weiter entfernt, um mich herum angeordnet sind. Die Perspektive ist ego-zentrisch, ich-zentriert. Christus dreht diese Blickrichtung um. Seine Sichtweise ist hetero-zentrisch, "anderer-zentriert". Er stellt den anderen Menschen, der etwas von mir braucht, in den Mittelpunkt. Nicht er ist mein Nächster, sondern ich kann zu seinem Nächsten werden. Ich kann mich entscheiden, mich zu seinem Nächsten zu machen, indem ich auf seinen Ruf antworte. Die Mitte des ganzen Lebens, nicht meines Lebens, ist der Andere, und es hängt von mir ab, von meiner Entscheidung, von meinem Handeln, wie nah ich dieser Mitte komme, die als Mitte des ganzen Lebens auch meine Mitte ist.
Publiziert am: Sonntag, 14. Februar 2016 (1264 mal gelesen)
Copyright © by Rudolfo Kithera
[ Zurück ]