Cassiel warnt Damiel
Im Film "Der Himmel über Berlin" von Wim Wenders sitzen zwei Engel,
Damiel und Cassiel, in einem Auto.
Sie sind durch Berlin "flaniert", durch das heutige wie das gestrige,
haben sich unverbindlich unter die Menschen gemischt,
nur von den Kindern bemerkt, nur für die Kinder sichtbar.
Mauern und Entfernungen stellten dabei kein Hindernis für sie dar.
Sie konnten teil haben - an dem, was die Menschen dachten,
an dem, was sie fühlten;
sie konnten ihre Seelen "berühren",
die trauernden trösten, den ängstlichen neuen Mut geben.
Doch sie konnten nicht teil nehmen,
nicht eingreifen in das körperliche Geschehen.
Nun sitzen sie in diesem Auto
und tauschen ihre Erfahrungen und Erlebnisse aus.
Jeder liest dem anderen aus einem kleinen Notizblock vor,
was er aufgeschrieben hat.
Schließlich, nach dem üblichen "Lippenbekenntnis" der Engel,
wie "herrlich es ist, nur geistig zu leben",
gesteht Damiel seinem Mit-Engel, dass in ihm der Wunsch, so wie die Menschen in einer sinnlichen Körper-Welt zu leben, immer stärker wird:
".. manchmal wird mir meine ewige Geistesexistenz zu viel.
Ich möchte dann nicht mehr so ewig drüberschweben,
ich möchte ein Gewicht an mir spüren, das die Grenzenlosigkeit an mir aufhebt und mich erdfest macht."
Cassiel antwortet nicht darauf, nickt nur und lächelt verständnisvoll.
Doch ihm ist klar: Ich will Engel bleiben. Ich will nicht Mensch werden.
Was hätte er wohl gesagt, wenn er versucht hätte,
Damiel von dem sich anbahnenden "Sündenfall",
dem folgenschweren Fehlschritt in eine menschliche Daseinsform
warnend abzuhalten?
Vielleicht Folgendes:
Durchschreite nicht den Fluß, den Rubikon,
der Grenze ist zum düsteren Land des Grauens,
wo lärmend herrscht der wilde Höllenkampf!
Bleibe doch hier auf diesem Ufer,
im Paradies des Himmelfriedens,
wo nichts und niemand un-willkommen,
alles und jeder gleich willkommen ist,
wo nichts im Streit sich widerspricht,
jeder mit jedem achtvoll spricht.
Was willst du denn im Land der Zwei,
des Zwists, der leidvollen Ent-Zweiung,
des Zweifels und der trennenden Ent-Scheidung?
Entscheide dich ein einziges Mal für immer
dazu: "Ich werde nicht entscheiden.
Ich will und werde un-entschieden bleiben,
für alles un-parteiisch, all-parteilich offen."
Bleibe im Reich der unbegrenzten Möglichkeiten,
zahllos, unzählbar, ungezählt!
Tausch' sie nicht ein für die begrenzte Wirklichkeit,
wo eines mehr zählt als das andere,
das eine nützlich ist, das andere schädlich,
wo eines richtig ist, das andere falsch,
wo eines wahr ist, anderes gelogen,
wo einer Freund ist, doch ein anderer Feind!
Ich bin ein Engel und will Engel bleiben,
statt Mensch zu werden auf der anderen Seite,
gezwungen, dies zu tun, doch das zu lassen.
Ich bleibe hier, wo es kein "oder" gibt,
kein "aber", nur ein "und", ein "auch".
Ich will ein Engel sein, der überall und immer,
alles erkennen kann, befreit von Raum und Zeit,
der nirgendwo und nie etwas ergreifen muss,
eingreifen muss in das Geschehen,
der überall nur Zuschauer und stiller Zeuge bleibt,
an allem unbeteiligt und von nichts betroffen -
und nicht ein Mensch, im Land der Zwei gezwungen
zum Handeln überall und immer,
zum Wirken in der Zeit zu jeder Zeit,
stets antwortend, weil stets ihn jemand ruft,
und der sich stets entscheiden muss,
weil er sich auch entscheidet dann,
wenn er sich nicht entscheidet.
Bleibe doch unverbindlich all-verbunden!
Warum willst du das Ganz-Sein denn in Stücke spalten,
des Eins-Seins Frieden brechen, stören,
sogar mit grober Axt zer-stören?
Wenn du dich nur an Eines ganz besonders bindest,
bist du nicht mehr verbunden mit dem einen Ganzen.
Wohn' nicht in einem Haus als dein Zu-Hause!
Sonst kannst du nicht mehr Gast in vielen sein.
Wähl' dir zur engen Heimat keinen Körper,
von anderen Körpern unglücklich getrennt!
Sperr' dich doch nicht in einen tristen Kerker ein!
In ihm gefangen kannst du nicht mehr unbeschwert
als Geist mit anderen Geistern schweben.
Mit Flügeln, die gebrochen sind, bleibst du am Boden kleben,
kannst nicht mehr von der Erde dich erheben.
Da, wo es Schwere gibt, da ist das Da-Sein schwierig.
Nur Flügel geben Leichtigkeit dem Sein.
Warum willst du denn flüchten aus der Flüchtigkeit
des ewigen glücksel'gen Augenblicks,
der frei sich ausdehnt zur Unendlichkeit,
in die begrenzte Dauer der erstarrten Körper-Formen,
die sterben schon nach kurzer Lebenszeit?
Warum willst du denn fliehen aus der Gegenwart,
in der von selbst dir wahllos alles zufällt,
gleich wert-voll, gültig, wichtig,
gleich schön, gleich wahr, gleich gut?
Du kannst doch weit zu allen Seiten schweifen,
du kannst anrührend jede Seele streifen.
Warum willst du, von nichts dazu gezwungen,
dich zwängen ein in einen einzigen schmalen Weg,
der dich nur noch nach vorne geh' n und schauen lässt,
dich vorwärts zwingt - drückt, zieht und treibt?
Du kannst doch überall die eine Antwort finden,
das "Ja" der Liebe, fraglos, ungesucht.
Du kannst doch weiterhin im Alles-Sein umhergeh' n,
endlos, begrenzt weder vom Raum noch von der Zeit.
Cassiel warnt Damiel eindringlich davor, den Rubikon zu durchschreiten.
Damiel tut es trotzdem.
Er wird Mensch.
Wir alle haben es getan -
haben den Apfel gegessen
vom Baum der Erkenntnis.
Wir sind Menschen geworden.
Doch wozu?
Der Ex-Engel und Neu-Mensch weiß es schließlich.
Der Film endet mit dem Satz:
"Ich weiß jetzt, was kein Engel weiß."
Er sagt das nach der ersten Nacht mit der Frau,
in die er sich schon als Engel verliebt hat,
für die er sich entschieden hat,
für die er sich bestimmt fühlt;
nach der Ver-Einigung mit dem besonderen Menschen,
den er besonders liebt.
Ein Engel kann sich nicht entscheiden,
für einen bestimmten, einen besonderen Menschen,
weil unterscheidungslos für ihn ja alles, jeder stimmt -
gleich wichtig und gleich wertig.
Es gibt für ihn keinen besonderen Anderen,
der ihm besonders nah verbunden ist,
weil er mit allen Menschen (und auch allen übrigen Wesen) gleich verbunden ist.
Ein Engel kann sich nicht ver-einigen,
weil er schon ewig eins mit allem ist.
Ein Engel kann leidvolle Trennung gar nicht überwinden,
weil er ja leidfrei ungetrennt von allen ist.
Der Engel ist "unfrei" eins mit allen, ungetrennt von allem.
Er kann gar nicht ent-zweit, gar nicht getrennt sein.
Er bräuchte dafür einen Körper;
Doch den hat er ja nicht.
Der Mensch, der hat die Wahl.
Er ist erst mal getrennt - in seinem Körper, durch seinen Körper.
Er kann auch in dieser Trennung bleiben.
Und er kann sich frei dafür entscheiden, diese Trennung aufzulösen,
sich mit einem anderen Menschen glück-voll zu ver-einigen -
und wieder mit Gott.
Aus eigenem Entschluss hat er den VATER einst verlassen.
Aus eigenem Entschluss kommt er als der "verlorene Sohn" zurück.
Und vielleicht liegt in diesem frei gewählten Sich-Zurück-Vereinen etwas,
was das unfreiwillige Eins-Sein nicht hat.
Vielleicht bringt der "verlorene Sohn", wenn er zurück kommt in sein Vaterhaus,
ja aus der Fremde etwas mit, was er nur in der Fremde sich erwerben konnte.
Vielleicht wusste der VATER das.
Vielleicht hat ER ihn deshalb gehen lassen.
Publiziert am: Dienstag, 20. April 2021 (720 mal gelesen)
Copyright © by Rudolfo Kithera
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