Der Wahrheit Über-Macht
Die Wahrheit können wir nicht ganz erfassen.
Sie ist für unseren Geist zu groß, zu weit, zu tief.
Wir sollten auch die Übermächt'ge friedlich schlummern lassen.
Denn aufgeweckt erschreckt sie, die so gnädig schlief.
Zu unserem Glück ist das ja gar nicht möglich.
Doch auch dann, wenn es ginge, tät' es uns nicht gut.
Zum Schutz vor ihrem Anblick ist es so gefügt,
dass sie in fest verschloss'ner Tempelkammer ruht.
Geläng' es uns, bis dahin vor zu dringen,
dann fänden wir sie dort verschleiert vor.
Das reicht nicht aus, um uns ans Ziel zu bringen.
Doch weitere Schritte ginge nur ein Tor.
Es sollte niemand sie nach ihrem Namen fragen,
aus Gier, zu wissen, was sonst keiner weiß.
Denn ihre Antwort könnte er gar nicht ertragen.
Die Ohren würd' sie ihm verbrennen, glühend heiß.
Und wer sie tollkühn zu entschleiern wagte,
der würde auf der Stelle völlig blind.
Das Licht der Wahrheit blendet so wie tausend Sonnen.
Dem hält nur reiner Geist stand, körperfreier Wind.
PS.
Woher ich das denn weiß?
Ich weiß es gar nicht, hab' es nicht gefunden;
hab' es mir ausgedacht, hab' es er-funden -
jedoch, ich hab' es nicht er-logen.
Ich hab' ja nicht gesagt:
"Ich weiß das, habe es gefunden."
(mit den Worten Wittgensteins gesagt:
Ich habe es gezeigt, es nicht gesagt.)
Zu diesem Gedicht bin ich natürlich von Schillers berühmter Ballade "Das verschleierte Bild zu Sais" angeregt worden.
Publiziert am: Sonntag, 18. April 2021 (651 mal gelesen)
Copyright © by Rudolfo Kithera
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