geschrieben nach zwei Jahren - ein weiterer Brief an Marko
Damals, auf deiner Totenfeier, konnte ich die Nähe der meisten Anderen nicht ertragen.
Nicht wegen eigener Trauer. Die kam erst später, schlich sich erst nachher ein. Damals hatte ich keine.
Nein, wegen der Schwere der Anderen.
Ich sah Befreiung, die Anderen nur Verlust - jedenfalls die meisten.
Ich hätte am liebsten jeden gepackt und wach geschüttelt:
"Aber verstehst du denn nicht? Es ist doch alles ganz anders - (wenigstens halb anders). Spürt denn keiner die Leichtigkeit, die diesen Raum hier durchschwebt?"
Doch das wäre natürlich völlig unüblich gewesen, völlig unangemessen. Ich wäre aus der Rolle gefallen. Zwar hätte es mir niemand übel genommen. Jeder hätte Verständnis dafür gehabt. "Der arme Vater ist eben aus der Spur. Der spürt noch gar nicht, was der Tod seines Sohnes bedeutet. Der schützt sich noch gegen seine Trauer."
Doch ich hätte keinen erreicht. Ich hätte niemanden überzeugt, dass ich ja nicht etwas weniger spüre, sondern etwas mehr, dass ich etwas sehe, was bei ihm und vielen Anderen durch einen absurden Aberglauben, eine wahnsinnig falsche Sicht des Todes vernebelt wird.
Ich hätte niemanden überzeugen können.
Ich wich der langen Schlange der Beileid-Aussprechenden aus. Zwischen den Stuhlreihen im Hintergrund spielten ahnungslos-unbefangen einige kleine Kinder, die noch nicht wussten, dass hier ein Trauerspiel gespielt wurde.
Zu denen flüchtete ich. Und dachte: "Diese Kinder hier sind neben einigen wenigen Erwachsenen, die nicht nur wissend, die auch wissend fühlend sind, die einzigen Vernünftigen hier, weil sie noch nicht durch eine Fehlkonstruktion von Wirklichkeit verdorben sind."
Ich will, dass meine eigene "Totenfeier" anders abläuft - als eine freudige, von mir aus auch dankbare Abschiedsparty für den Weiterwanderer.
Und was ich dafür tun kann, werde ich tun:
Ich werde als Teil meines letzten Willens deiner Mutter sagen - ich geh, ich weiß auch nicht, warum, davon aus, dass sie länger hier in dieser Schule bleiben wird, vielleicht, weil sie "nachsitzen" muss - sie soll dafür sorgen, dass einige der Texte vorgelesen werden, die ich über die Wahrheit und Wirklichkeit des Todes geschrieben habe.
Dann hole ich nach, was ich damals versäumt habe, versuche doch noch einmal, als Letztes in meiner jetzigen irdischen Form, wenigstens einige der Schlafenden wach zu schütteln.
Ich hör dich fragen - natürlich zu Recht:
"Aber Papa, wo kommt denn dann die Trauer her, von der du sprichst? Sie passt doch gar nicht zu dir. Was konnte denn so deine klare Einsicht trüben?"
Du fragst so, wie in der Bhagavad-Gita Krishna Arjuna fragt, den kühnen Helden, den besten Bogenschützen seiner Zeit, welche Schwäche ihn denn befallen hat, so dass er nicht mehr kämpfen will, von Trauer, Schmerz und Mitleid übermannt.
Nun, "Trauer" ist auch nicht ganz das richtige Wort. Es ist eher eine Mischung aus Trauer, Rührung, Mit-Gefühl und Wehmut.
Und ich weiß, woher die kommt:
Damals, bei deinem Weiterwandern, war ich getragen von deiner Aufbruchstimmung, deiner zuversichtlichen Neugier auf das neue Land.
Inzwischen wird mir machmal bewusst, dass du ja damit von mir - natürlich noch viel mehr von deiner Frau und Tochter - weg-gewandert bist. Du bist fort gegangen, ausgewandert in ein Land, in dem wir dich nicht besuchen können. Wir können dir Briefe schreiben und es kommt auch irgendwann eine Antwort. Doch wir können dich nicht mehr treffen. Und hier fehlst du uns - manchmal auch mir.
Das war zunächst mal überdeckt durch die Lebendigkeit deines Aufbruchs. Er war ja dramatisch. Es war viel geschehen und es geschah immer noch viel, als damals diese Totenfeier stattfand.
Jetzt ist der Alltag eingetreten. Jetzt merke ich, dass einiges, was durch dich geschehen ist, eben nicht mehr geschieht.
Und so legt sich manchmal in meiner Seele ein Wasserschleier auf die leichte Luft. Und im getrübten Licht des Nebels seh ich dann Gespenster.
Doch sei unbesorgt - ja, ich weiß, das tust du auch gar nicht. Das hält nicht lange an.
Auch Arjuna lässt sich ja durch nur 700 Verse von Krishna überzeugen, wieder der mutige Kämpfer zu sein, der er ist.
So finde auch ich recht schnell zu meiner ungetrübten Sicht zurück, schau wieder im Glück des Friedens auf die Gegenwart - in beiden Welten -, im Mut des Glaubens in die Zukunft.
Auch ich will dich noch etwas fragen - nach deinem neuen Leben in dem Land, in das du ausgewandert bist:
Stimmt das, was manche sagen, dass du jetzt den Weg, den du hier, auf dieser Seite des Lebens, gegangen bist, zurück gehst, etwa drei mal so schnell?
Dann müsstest du jetzt in der Zeit kurz vor der Geburt deiner Tochter angekommen sein.
Ich werde auch mal in diesen Zeitraum geh'n.
Wir können uns ja nicht im Raum treffen.
Doch vielleicht treffen wir uns ja in der Zeit.
Publiziert am: Donnerstag, 11. März 2021 (818 mal gelesen)
Copyright © by Rudolfo Kithera
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