Hast du den Glauben an die Menschheit verloren?

Mirjam, die Schülerin des Rabbi Jeshua von Nazareth, die ihm am nächsten stand, die ihn am besten verstand, sieht viele Jahre nach seinem Tod und seiner Auferstehung, wie seine Lehre inzwischen verfälscht und ins Gegenteil verkehrt wurde. Im Zeichen des Kreuzes, an dem er gestorben war, um der ganzen Menschheit ewiges Leben zu bringen, wird jetzt getötet.

 

"Dafür also bist du gestorben, Rabbi.

Frieden wolltest du bringen. Krieg hast du gebracht. Gewaltloser du. In deinem Namen morden sie.

Licht wolltest du bringen auf diese Erde. Die Schatten der Unterwelt haben sich wie schwarze Trauben an dich gehängt, dass dir der Wiederaufstieg nicht gelang. König der Unerlösten, du."

 

Ich schrie. Ich schlug meinem Kopf an den Felsen (der Höhle, in der sie lebte) und ersehnte den Tod. Worauf noch warten?

Wieviel Zeit war vergangen seit Jeshuas Tod? Nicht mehr nach Jahren zu zählen.

Und wieviel Zeit lag noch vor uns, ehe Jeshua wiederkommem sollte, wie ers versprochen hatte?
 

Glaubte ich denn noch ans verheißene Friedensreich, oder hielt ich mich nur fest an diesem Glauben, weil ich ohne ihn ins Leere stürzen würde?

Das Rad drehte sich und drehte sich und brachte nichts Neues und tauchte immer tiefer ins Dunkel, und keiner war da, das Drehen und Sinken aufzuhalten.
 

Da hörte ich eine Stimme: "Mirjam!"

Ich zog mich ins Höhlendunkel zurück. Ich kannte die Stimme. Ich wollte sie nicht hören.

"Mirjam!"

Die Höhle wurde hell, aber es war niemand da außer mir. Täuschung, Wunschtraum, Angsttraum. 

"Mirjam!"

Zum dritten Mal. jetzt endlich tat ich den Mund auf:

"Rabbi!", und ich begann zu zittern.

Du willst mich verlassen, Gefährtin? Du willst abspringen vom Rad, hinein in die selige Leidlosigkeit, während ich das Gewicht der Erdenmaterie hinaufzuziehen mich abmühe? Du lässt mich allein? Du verlässt den Platz unter dem Kreuz, an dem ich hänge?
Was quälst du dich ab mit der Frage: Wo ist das Friedensreich? ICH BIN das Friedensreich."

"Mag sein", sagte ich."Aber wir merken davon nichts. Wo ist der verheißene Friede?"

"Denkst du immer noch in Jahrhunderten? Denk in Jahrtausenden! Das Werk der Befreiung hat erst begonen. Der Aufstieg der Menschheit dauert sehr lange, Mirjam."

"Die Menschheit versucht ihn schon so lang, Rabbi!"

"Lang? Der Mensch ist jung auf dieser Erde."

"Jung? Wir Juden sind ein altes Volk, ein uraltes."

"Es gibt ältere. Und alle sind Kindervölker. Sie proben das Leben und den Aufstieg."

"Ich sehe Abstieg, Rabbi."

"Was du als Abstieg siehst, ist Durchgang."

"Du bist geduldig, Rabbi."

"Meine Liebe ist geduldig. Hochreißen möchte ich den Menschen, bis in die Sphäre des Höchsten möchte ich ihn ziehen mit der Macht meiner Liebe. Dorthin muss er gelangen, denn von dorther stammt er.
Mirjam, du wirst den Aufstieg leisten, die Menschheit wird ihn leisten, und du wirst bleiben, bis er geleistet ist und das Friedensreich sich gründet."

Dann schwieg die Stimme, und das Licht erlosch. Langsam erlosch es, um mich nicht zu erschrecken mit plötzlicher Dunkelheit.

Dies aber war das letzte Mal, dass mir vergönnt war, das Licht zu schauen und nicht nur die Schatten auf der Höhlenwand.

Karg hielt mich mein Geliebter, und streng nahm er mich beim Wort:

"Ich brauche keine Wunder und keine Gesichte, um an dich zu glauben, Rabbi!"

Die Dunkelprobe, der Nachtweg, die Blindheit.  .....

 

So bleibe ich denn, und bin nichts mehr als das Warten auf das Friedensreich.

(Luise Rinser, Mirjam)

Publiziert am: Freitag, 01. Januar 2021 (929 mal gelesen)
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