Geben und nehmen



Wenn du etwas genommen hast,

fühl´ dich nicht immer in der Pflicht,

zu krampfhaftem Bemüh’n gezwungen,

es unbedingt zurückzugeben,

dem, der es gab, von dem du 's nahmst!

 

Das, was du nahmst, was er dir gab,

gib es doch einfach weiter!

Zurück kannst du es oft nicht geben.

Auch weiter geben kannst du es nicht immer -

doch viel öfter.

 

Und auch, was du zurückgibst,

gibst du letztlich weiter –

dem großen Lebensganzen, dem lebendigen Fließen

das beides ist, der Geber und der Nehmer,

das beides ist, das Nehmen und das Geben.

 

Das Leben ist das, was dem Leben nimmt.

Das Leben ist das, was dem Leben gibt.

 

Gib nicht nur dem,

der dir schon etwas gab,

dem du vertraust,

dass er es dir zurückgibt!

 

Und nimm nicht nur von dem,

dem du schon etwas gabst!

 

Es geht ja nicht um dich.

Es geht ja nicht um ihn.

Es geht ja um das Leben.

 

Das Leben ist das, was dem Leben gibt.

Das Leben ist das, was dem Leben nimmt.

 

Erlaube dir, auch mal zu nehmen!

Du darfst auch nehmen,

weil du ja auch gibst.

Das, was du gibst, nimmst du vom Leben.

Das, was du nimmst, gibst du dem Leben.

 

Denn letztlich nimmst nicht du.

Denn letztlich gibst nicht du.

 

Das Leben ist das, was dem Leben nimmt.

Das Leben ist das, was dem Leben gibt.

 

 

 

Kommentar:



Oft wendet ihr ein: Gerne würde ich geben, doch nur denen, die es verdienen.

Die Bäume eurer Gärten handeln nicht so, und auch nicht die Herden eurer Weiden.

Sie geben, um zu leben, denn zurückhalten bedeutet zugrunde gehen.

Wer würdig ist, die Tage und Nächte des Lebens zu empfangen,

ist es auch, all' eure Gabe zu erhalten.

Und wer würdig ist, aus dem Meer des Lebens zu trinken,

ist es auch wert, an eurem Quellwasser seinen Becher zu füllen.

Gibt es ein größeres Verdienst als jenes,

das im Mut, im Vertrauen und im Wohlwollen des Empfangens liegt?

Wer seid ihr, verlangen zu können,

dass die Menschen ihre Brust öffnen und ihren Stolz enthüllen,

damit ihr euch von ihrem wahren Wert und ihrem unverhüllten Ehrgefühl überzeugen könnt?

Seht zu, dass ihr würdig werdet, ein Gebender zu sein und ein Werkzeug des Gebens.

In Wahrheit ist es das Leben, das gibt,

während ihr, die ihr zu geben vermeint, nur Zeugen seid.



Und ihr, die ihr empfangt - und ihr seid alle Empfangende -,

macht die Dankesschuld nicht zur Last,

weder für euch noch für den, der gibt!

Schwingt euch lieber mit ihm zusammen auf seinen Gaben empor wie auf Flügeln,

denn wenn ihr die Dankesschuld überbewertet,

so zweifelt ihr an der Großmut desjenigen,

der die großherzige Erde zur Mutter hat und den barmherzigen Gott zum Vater.

(Kahlil Gibran, Der Prophet, Vom Geben)

 

Publiziert am: Donnerstag, 22. Oktober 2020 (866 mal gelesen)
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