Die Horde in mir



"In mir sind alle Wesen", spricht der Gottmensch Krishna.

Er fährt dann fort: "Doch ich bin nicht in ihnen."

und weiter: "Meinem Beispiel folgt die ganze Schöpfung."

Dann gilt das, was für ihn gilt, auch für mich.

 

"In mir", das ist ja nicht gleich "ich".

Zwar bin ich jeder meiner Teile.

Doch bin ich mehr als alle Teile.

Ich kenn' als Ganzes alle Teile.

Doch mich als Ganzes kennt kein Teil.

 



 

In mir lebt eine muntere Wanderhorde,

die gute Weidegründe sucht für ihre Herde.

Sie ist in sich gefächert mit-glieds-reich,

in jung und alt, in still und laut, in stark und schwach.

In ihr erklingt ein Chor aus vielen Stimmen.

 

Das Kleinkind gibt es noch, Gespenster fürchtend,

das schreit und weint im dunklen Tannenwald,

durch den der Weg der Horde führen muss -

 

das "Pubertier", sich weigernd, aufbegehrend,

das sagt: "Den Weg geh' ich nicht weiter mit." -

doch noch nicht sagen kann: "Den will ich geh'n." -

 

der junge Mann, kühn vor der Horde laufend,

der unbekannte Wege für sie auskundschaftet,

der für sie neues, unbetretenes Land erspäht.

 

Es lebt in mir der Mann der reifen Jahre,

der mit der Horde manchen Weg geschritten,

weiß, wo das Gras der Wiesen üppig ist.

Und manchmal gibt es schon den Alt-Geword' nen,

der keine ungewohnten Wege mehr erkunden,

der ruhig-sicher nur bekannte gehen will.

 

 

Schon immer gibt es alterslos den Nicht-Geword' nen,

vom sanften Hauch der Ewigkeit umweht,

der weiß: "Der Weg ist gehbar und der nicht."

 

 

 

 

 

 

Dass es sie alle gibt, ist gut und richtig.

Es hat ja jeder in der Horde seinen Platz,

der ihm gehört und wo er hin gehört;

und jeder spielt dort eine wichtige Rolle,

die er allein, kein anderer spielen kann.

Deshalb ist jeder wertvoll, würde jeder fehlen.

Den Mund verbieten muss man keinem, keinen knebeln.

Man muss auch keinen einsperren und keinen fesseln.

Auch muss man keinen vor der Welt verstecken.

 

 

 

 

 

 

Doch wer soll denn die ganze Horde führen,

wer in ihr richten, Streitigkeiten schlichten?

Wer soll den Weg bestimmen, den die Horde geht?

 

Doch nicht das Kleinkind, das Gespenster fürchtet -

auch nicht das "Pubertier", das gegen ist, nicht für -

auch nicht der junge Mann, ein Sucher noch, kein Finder -

auch nicht der reife Mann, der kundig vieler, längst nicht aller Wege -

auch nicht der Alte, Schwierigkeiten scheuend,

der nicht mehr gerne steile Wege geht.


 

Es sollte richten, sollte führen nur der ewige Weise,

dem zeitlos alle Wege sind vertraut,

der alle anderen in der Horde kennt und weiß,

wer welche Stärken hat und welche Schwächen,

für welche Rolle daher wer geeignet ist,

mit milden Augen wohlwollend auf jeden schaut,

der sich um jeden kümmert, sich für jeden einsetzt,

ist jedem stetig achtsam zugewandt.

 

 

Nur wer um alle ist besorgt, kann dafür sorgen,

dass jeder an dem Ort steht, wo er gut steht,

dass jeder da entlang geht, wo 's ihm gut geht,

dass jeder das bekommt, was ihm auch zusteht.

Der jeden in der Horde kennt und alle Wege,

der wissend Weise, sollte führen, sollte richten.

Der starke, reife Mann mag seine rechte Hand sein,

der viel-erfahrene Alte sein Berater.

 

 

 

 

 

 

Wenn mir ein Anderer begegnet auf dem Weg,

dann treffe ich auf eine andere Wanderhorde.

Für meine ganze Horde sollte dann

nicht unbedingt das Kleinkind sprechen,

bestimmt von Angst und Aberglaube;

auch nicht der Teenager, noch nicht im Einklang,

der erst mal ablehnt, der noch nicht bejaht;

auch nicht der junge Held und der erfahrene Krieger,

die kraftbewusst zu sehr bereit zum Kampfe sind;

auch nicht der schwache Alte, der - sich schonend -

nicht mehr mit starken Worten eintritt für das Recht.

 

Verhandeln sollte mit der anderen Horde nur

der zeitlos Weise, der aus ew'ger Kunde weiß:

Die andere Horde hat denselben Ur-Ahn.

Die Horden sind verwandt, gehör'n zum selben Stamm.





Also:

Nimm alles in dir wahr!

Nimm alles in dir an!

Doch sprich nicht alles aus!

Doch leb' nicht alles aus!






Kommentar:


 

Keiner von uns ist eine Einheit, naht-los, fugen-los,

einfach aus einem Block, aus einem einzigen Guss,

in sich nicht aufgefächert, ungegliedert ganz.

Jeder von uns setzt sich, fügt sich zusammen

aus Stücken, abgeteilt und vielfältig verschieden,

die wie Personen auch ein Eigenleben führen.

 

Doch alle diese Teile sind gefasst zur Einheit,

als Ganzes lenkbar und gemeinsam führbar,

von einem Kern, von einem Teil der Mitte,

der alle anderen kennt, sie annimmt und sie wertschätzt,

sich für sie interessiert und für sie engagiert.

 

Entstanden in der Zeit sind alle anderen Teile.

Doch diese Mitte in dir, die ist zeitlos, ungeworden.

Führe dich selbst als diese klare Mitte!

Geh' auch mit Anderen um so sanft wie dieser Kern!




 

 

 

Publiziert am: Dienstag, 02. Juni 2020 (966 mal gelesen)
Copyright © by Rudolfo Kithera

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