Der sich aufopfernde Apfelbaum
Manchmal erzähle ich Patienten (meistens Patientinnen), die dazu neigen, sich um jeden Anderen zu kümmern, nur nicht um sich selbst, folgende Geschichte:
Stellen Sie sich mal einen Garten vor! In diesem Garten wächst ein Apfelbaum, daneben ein Birnbaum, ein paar Rosen und mehrere Sorten Gemüse. Alle Pflanzen in dem Garten sind anscheinend prächtig gediehen und strotzen vor Gesundheit, mit üppigen Blüten, vielen reifenden Früchten und schönem vollem Blattwerk, außer der Apfelbaum. Der hat keinen einzigen Apfel angesetzt, viele Blätter sind schon abgefallen, die wenigen übrig gebliebenen Blätter sind schon halb vergilbt und verdorrt, er scheint kurz vor dem Absterben zu stehen.
Der Garten gehört einem Gärtner, der die besondere Fähigkeit hat, mit den Pflanzen sprechen zu können und ihre Antworten zu verstehen. Der kommt nach längerer Abwesenheit mal wieder in seinen Garten, sieht, dass alle anderen Gewächse gesund und kräftig aussehen, nur der Apfelbaum sieht krank und hässlich aus. Der Gärtner fragt den Apfelbaum, warum er denn in einem so erbärmlichen, abstoßenden Zustand ist. Der Apfelbaum antwortet: „Ich habe kein Magnesium für mich aus dem Boden gezogen; denn das braucht ja vielleicht meine jüngere Schwester, der Birnbaum, dringender als ich. Ich habe kein Eisen für mich aus dem Boden gezogen, das habe ich meinen Cousinen, den Rosen überlassen. Und ich habe auch keinen Kalk für mich aus dem Boden genommen, denn davon braucht ja vielleicht das Gemüse, das ja auch entfernt mit mir verwandt ist, mehr als ich.“ Was meinen Sie, würde der Gärtner dem Apfelbaum wohl antworten? Wenn er der Meinung ist, dass er den Apfelbaum einmal kräftig wach rütteln muss, wird er vielleicht Folgendes sagen: „Du, Apfelbaum, bist der einzige Schandfleck in meinem Garten. Sieh dich mal um! Deine Schwester, deine Cousinen und übrigen Verwandten sehen alle prächtig aus. Jedes Auge freut sich, sie zu sehen. Nur du lässt die Blätter hängen, trägst keine einzige Frucht und siehst elendig aus. Ich will aber, dass mein Garten überall, an jeder Stelle, prächtig und einladend aussieht. Deshalb habe ich jedem von euch als erste und wichtigste Aufgabe gegeben, das für euch selber aus dem Boden zu nehmen, was ihr selber braucht. Jeder von euch hat als höchste Verantwortung, gut für sich selbst zu sorgen, sich darum zu kümmern, dass er wächst und gedeiht, dass der Platz, den er in meinem Garten einnimmt, mit aufmerksamer Fürsorge und liebevollem Interesse gepflegt ist und sich so in die Schönheit und Harmonie des ganzen Gartens einfügt. Wenn einer von euch sich nicht um den Platz, an dem er selber steht, kümmert, dann tut es kein anderer, dann tut es keiner, und der Platz verwahrlost und ist ein Ort der Schande in meinem Garten.“
Wenn wir annehmen, dass auch die Welt, der wir angehören, das Universum, ein Garten ist, und es vielleicht auch einen Gärtner gibt, dem der Garten gehört, dann ist es unsere erste, wichtigste, höchste Verantwortung diesem Garten und dem Gärtner gegenüber, gut für uns selbst zu sorgen, dafür, dass wir das haben, was wir brauchen, um gesund zu bleiben und zu wachsen. Es kann nicht der Wille des Universums oder seines Schöpfers und Lenkers sein, dass wir uns für Andere so weit zurücknehmen, aufgeben und aufopfern, dass wir krank werden, uns in unserer Entwicklung behindern, nicht mehr wachsen können. Natürlich ist es auch wichtig, dabei darauf zu achten, dass man nicht mehr für sich in Anspruch nimmt, als man benötigt. Es geht um das, was man für das eigene gesunde Gleichgewicht und das eigene Wachstum braucht; es geht nicht darum, was man sich wünscht. Auf einem Kalenderblatt habe ich irgendwann einmal gelesen: „Die Welt ist groß genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.“ Es geht nicht um Gier, für sich alles zu nehmen und für andere nichts übrig zu lassen; es geht auch nicht um Sich-Opfern, anderen alles zu geben und für sich nichts übrig zu lassen; es geht um die Mitte dazwischen.
Zu mir als Psychotherapeut kommen viele Menschen, die ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie mal „nein“ sagen, eine unberechtigte Erwartung und Forderung anderer zurückweisen; oder wenn sie selber eine angemessene Forderung an andere stellen, sich selber das nehmen, was sie brauchen - ohne Gier. Sie haben oft nicht gelernt, sich genug wichtig zu nehmen, sich als wertvoll zu sehen, zu sehen, dass sie das, was sie brauchen, verdient haben, und dass es menschenunwürdige Zustände gibt, die sie nicht verdient haben. Für sie ist diese Geschichte vom Apfelbaum geschrieben, als Hilfe zum Umlernen.
Nicht nur, um zu lernen, dass es ihnen erlaubt ist, dass sie sich selbst erlauben dürfen, sich angemessen auch um sich selbst zu kümmern, angemessen auch für sich selbst zu sorgen, sondern dass sie darüber hinaus dazu gewissermaßen sogar verpflichtet sind, dass sie damit ihrer ersten und wichtigsten Verantwortung gerecht werden.
Publiziert am: Montag, 23. März 2020 (927 mal gelesen)
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