Wer ist an der Tür?
Rumi erzählt im Matnawi folgende Geschichte:
Wer ist an der Tür?
Ein Mann geht zum Haus seines Freundes und klopft an die Tür.
Der Freund fragt von innen: "Wer bist du?"
Der Mann antwortet: "Ich bin es."
Daraufhin sagt der Freund: "Geh' weg! Da du du bist, werde ich die Tür nicht öffnen.
Ich kenne keinen Freund, der ,Ich´ heißt."
Der Abgewiesene verbringt ein ganzes Jahr auf Reisen.
An der Trennung leidend, wird seine harte, rohe Seele weich und gar gekocht.
Schließlich klopft er wieder an der Tür des Freundes.
Der Freund ruft: "Wer ist an der Tür?"
Er antwortet: "Du bist an der Tür."
"Jetzt", sagt der Freund, "wo du ich bist, komm herein!
In diesem Haus ist nicht genug Platz für zwei Ich, nur für eins."
(frei nach dem Matnawi, Buch I, 3055-3063)
Diese Zeilen sind im Matnawi eingebettet in folgende Geschichte vom Löwen, Wolf und Fuchs:
Ein Löwe, ein Wolf und ein Fuchs gingen einmal gemeinsam zur Jagd.
Nachdem sie einen Ochsen, eine Ziege und einen Hasen erlegt hatten, schleppten sie die Beute auf eine Waldlichtung, und der Löwe forderte den Wolf auf, sie gerecht aufzuteilen.
"Der große, starke Ochse", sagte daraufhin der Wolf, "gebührt natürlich dir. Denn auch du bist groß und stark.
Die Ziege passt zu mir und gehört deshalb mir. Denn sie ist Mittelmaß.
Nimm du, Fuchs, den Hasen!"
Als der Löwe das hörte, wurde er zornig und sprach zum Wolf:
"Was bist du doch für ein erbärmlicher Hund, dass du noch ,ich´ und ,du´ unterscheidest, wenn ich da bin, in meiner erhabenen Gegenwart noch dich selbst wichtig nimmst. Komm her zu mir!"
Und als der Wolf sich näherte, packte er ihn mit den Pranken und tötete ihn.
Danach wandte er sich an den Fuchs und forderte ihn auf, die Beute aufzuteilen.
Der Fuchs sagte: "Dieser fette Ochse ist selbstverständlich dein wohlverdientes Frühstück, du unvergleichlicher König.
Diese Ziege ist das, was dir allein als Mittagessen zusteht.
und der Hase ist natürlich dein Abendessen, du machtvoller Gebieter."
Über diese Worte erfreut, sprach der Löwe: "Fuchs, du hast gerecht geurteilt. Wo hast du das gelernt?"
Der Fuchs erwiderte: "Erhabener Herrscher, das habe ich vom Schicksal des Wolfs gelernt."
Da sprach der Löwe, zu großzügiger Gnade gerührt:
"Da du dich allein der Liebe zu mir verpflichtet hast, dich selbst dabei ganz vergessen hast, nimm die ganze Beute und geh!
Wie könnte ich dich verletzen, wo du ganz ich geworden bist.
Ich bin dein, und alle meine Beute ist dein."
(frei nach dem Matnawi, Buch I, 3013ff)
Ich habe diese Geschichte nur mit einigen Bedenken übernommen, weil darin ein Gottesbild mitschwingt - von Rumi sicher nicht beabsichtigt, aber in Kauf genommen - , was ich nicht teile. Für mich gibt es keinen richtenden und strafenden Gott, sondern nur einen alles liebenden. Gottes Gerechtigkeit ist Barmherzigkeit - für alles und jeden. Er lässt seine Sonne scheinen über Gerechte und Ungerechte. Wenn schon menschliches Bewusstsein in tiefer Meditation zu der Erkenntnis kommen kann, dass nichts jemals geschehen ist (du erinnerst dich vielleicht, lieber Leser, an den Kommentar von Andrew Cohen zum Gedicht "Als und jetzt"), dann sollte man doch erwarten, dass Gott, die höchste Form personhaften Bewusstseins, auch über diese Erkenntnis verfügt. Und wenn nichts jemals geschehen ist, dann gibt es auch nichts, worüber man richten und was man bestrafen könnte.
Es gibt natürlich die Sünde als Zustand der Trennung, der "Ab-Sonderung" von Gott, als Unwissenheit, doch es gibt keine Strafe dafür. Die Hölle besteht einfach darin, in diesem Zustand zu sein, die Strafe gibt man sich selber dadurch, dass man länger als nötig in diesem Zustand bleibt, indem man sich weigert, der immer gegebenen Einladung Gottes zu folgen, Getrenntheit und Unwissenheit aufzugeben und loszulassen, die Hölle zu verlassen und zu ihm in die Einheit des Himmels zu kommen.
Publiziert am: Samstag, 21. März 2020 (1013 mal gelesen)
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