In der Spirale
Wir sind jetzt, liebe Leserin, an das Ende des Weges gelangt, den wir gemeinsam gegangen sind. Wege, die zwei Wesen, durch ihre Körper zugleich verbunden und getrennt, zusammen gehen, miteinander und nebeneinander, fangen irgendwann an und hören irgendwann auf. Sie gehören in das Reich der Zeit, das Grenzen hat.
Jeder von uns wird dann wieder auf seinem eigenen Weg sein, allein, von anderen Wesen getrennt, mit anderen Wesen verbunden, wird im Land der Zeit auf Wegen gehen und im Land der Nicht-Zeit einfach da sein, im Land der Drei auf dem WEG, der nie angefangen hat und nie aufhört, der immer anfängt und immer aufhört.
Doch die Gedichte, die wir gemeinsam durchschritten haben, werden Orte sein, an denen wir verbunden waren, an denen wir uns auch wieder verbinden können, verbunden bleiben können.
Bevor sich jedoch (erst einmal) unsere Wege trennen, möchte ich dich, lieber Leser, noch mal auf einen hohen Berg führen und begleiten (im Land der Drei gibt es neben dem Nicht-Führen, Nicht-Folgen natürlich auch wieder das Führen aus dem Land der Zwei), von dem aus wir das ganze Reich der Drei überschauen können, in einen Text von Andrew Cohen aus seinem Buch „Himmel und Erde umarmen“:
„Was ist die Herrlichkeit Gottes? Was ist der bestimmende Ausdruck von dem, das alles transzendiert und doch einschließt?
Die Herrlichkeit Gottes ist die vernichtende Erkenntnis, dass alles immer vollkommen ist. Die Herrlichkeit Gottes ist die allen Dingen zu allen Zeiten an allen Orten und unter allen Umständen innewohnende Vollkommenheit. Sogar Erdbeben, Krankheiten und blutige Schlachten - das alles ist auch die Herrlichkeit Gottes. Die allen Dingen, so wie sie sind, innewohnende Vollkommenheit ist die Herrlichkeit Gottes. Aus einem absoluten Blickwinkel sieht das Auge des Selbst nämlich nur Gott und macht keinerlei Unterschied. Himmel und Hölle, Gut und Böse, das Bekannte und das Unbekannte, das Gesehene und das Ungesehene werden alle nur als verschiedene Ausdrucksformen des einen unvorstellbaren Mysteriums jenseits von Name und Form erkannt. Jenseits aller Gegensatzpaare gibt es nur die Herrlichkeit Gottes - nur absolut unvergleichliche Vollkommenheit.
Vor Zeit und Raum, bevor das Universum geboren war, gab es nichts. Dann plötzlich kam aus dem Nichts etwas. Es gab eine Explosion, und was wir alle in diesem Moment sind - Sie und mich eingeschlossen - ist diese sich bewegende Explosion. Diese sich bewegende Explosion ist ein strahlendes Wesen - bewusst, ganz und ungeteilt.
Erleuchtung ist die direkte Erkenntnis des eigenen wahren Gesichts als kein anderes als dieses strahlende Wesen - bewusst, ganz und ungeteilt. Und es ist die Erkenntnis der ausgesprochen vollständigen und immer vollkommenen Natur dieses wahren Gesichts, die das Gefühl der Individualität von dem hypnotischen Griff der Gleichsetzung mit dem Ego-Bewusstsein befreit.
Aber Erleuchtung bedeutet mehr als die befreiende Entdeckung der Vollkommenheit, die der absoluten oder nicht-dualen Natur aller Dinge innewohnt. Und das ist das Erscheinen einer machtvollen Aufforderung zur Evolution. Als aus dem Nichts heraus etwas hervorkam und die sich bewegende Explosion, die das ganze Leben ist, entstand, wurde ein beständiger Zustand des Werdens geboren. In der spirituellen Offenbarung wird dieser Augenblick als ein unpersönlicher Befehl des Selbst erfahren, zu transzendieren, sich zu entwickeln, diese Welt gründlich zu transformieren, damit sie ein dynamischer, lebendiger Ausdruck der Vollkommenheit werden kann, die sie bereits ist. Diese spirituell begründete Leidenschaft, die aus dem Selbst entspringt, entfesselt das Feuer absoluter Liebe und ego-widerstebenden Mitgefühls für diese Welt und ist eine Kraft, mit der immer gerechnet werden muss. Ihr unaufhörliches Verlangen ist Evolution und ihr greifbarer Ausdruck, Ordnung aus Unordnung zu erschaffen. Die grenzenlose Kreativität dieses evolutionären Impulses strebt danach, immer höhere Formen geheimnisvoller Ganzheit und Einheitlichkeit hervorzubringen. Dieser Ruf nach Transzendenz und Entfaltung, der in der spirituellen Offenbarung erfahren wird, ist der unerbittliche Schrei des Absoluten, der allen, die ein Ohr zu hören und Augen zu sehen haben, ein Zeichen gibt, sich von ganzem Herzen um dieser evolutionären Forderung willen hinzugeben.
Die unaufhörliche Forderung, sich zu entwickeln, ist auch die Herrlichkeit Gottes. Und das größte Paradoxon ist, dass diese Herrlichkeit beides ist, der strahlende, immer volle und vollständige, immer vollkommene Grund von allem, was ist, und die eigentliche Grundlage und Substanz jener sich bewegenden Explosion, die danach strebt, immer höhere Formen geheimnisvoller Ganzheit und Einheitlichkeit hervorzubringen.
Erleuchtung ist dann die direkte Erkenntnis der dualen Natur der Herrlichkeit Gottes als die allen Dingen innewohnende Vollkommenheit und die beständige Aufforderung zur Evolution. In dieser Erkenntnis liegt nicht nur die Befreiung aus dem hypnotischen Griff des Ego-Bewusstseins, sie bringt auch eine ekstatische Bewegung von Energie, die nur auftritt, wenn man sich dem schöpferischen Prinzip unterwirft. Das Wertvolle am menschlichen Leben ist unser heiliges Potenzial, die Herrlichkeit in unserem Herzen und Geist zu erleben und dadurch ihr bewusstes Instrument zu werden.“
„Im Anfang war das Wort. Und das Wort war bei Gott.“ (Joh 1, 1)
Der SOHN ist seit Uranfang in der Vollkommenheit des VATERS.
Ich komme immer an.
Und
„Im Anfang war das Wort. Und das Wort war auf Gott zu.“
Der SOHN ist seit Uranfang in einer ewigen, nie endenden Bewegung zu der Vollkommenheit des VATERS.
Ich komme nie an.
(der griech. Ausdruck „pròs tòn theón“ lässt beide Deutungen zu!)
Die ganze Herrlichkeit Gottes, die ganze Wirklichkeit, ist das Reich der Drei, das Reich der Nicht-Zeit und Zeit, das Land der Nicht-Wege und Wege.
Im Land der Wege sind wir ja schon am Anfang gewesen, von dort sind wir aufgebrochen, und jetzt kommen wir wieder dahin zurück, wo wir begonnen haben. Doch auf dem Weg, den wir gegangen sind, haben wir eine ganze Welt dazugewonnen.
Gewissermaßen sind wir im Kreis gelaufen, so, wie es T. S. Elliot empfohlen hat:
„Wir sollten nicht mit dem Forschen aufhören. Und am Ende unseres Forschens werden wir dort ankommen, wo wir angefangen haben, und diesen Ort zum ersten Mal kennen.“
Nur, wer in der Rose die Nicht-Rose sehen kann, sieht die wirkliche Rose.
Doch dieser Weg, er war nicht wirklich ein Kreis. Unser Weg war eine spiralenförmige Rampe, bei der die Windungen genau übereinander liegen. (Wenn man senkrecht von oben darauf guckt, sieht man nur einen Kreis). Wir stehen wieder an derselben Stelle, jedoch eine Stufe höher.
Die Spirale ver-eint die Qualitäten des ewig in sich ruhenden Kreises und der sich ewig bewegenden, aus der Unendlichkeit kommenden und in die Unendlichkeit gehenden Geraden. Alles wiederholt sich in „ewiger Wiederkehr“ (Nietzsche), alles ist von Anfang an schon da, doch diese Wiederkehr schreitet doch voran, erhebt sich auf immer höhere Stufen. In der Spirale kommen wir immer an, sind immer schon angekommen, und wir kommen nie an, gehen immer weiter.
Publiziert am: Donnerstag, 19. März 2020 (1109 mal gelesen)
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