Ein Experiment mit der Zeit
Stell dir vor, lieber Leser, du bekommst in diesem Moment folgende Botschaft vom Planeten XY:
„Wir werden dich genau in einem Jahr auf unseren Planeten beamen. Keine Sorge, dir wird es bei uns gut gehen. Du wirst der Repräsentant deiner Milchstraße sein, in etwas wohnen, was man bei euch einen Palast nennt, und dir wird es auch sonst an nichts fehlen. Damit du jedoch nicht auf die dumme Idee kommst, auf deinen Heimatplaneten zurück zu wollen, werden wir jede Erinnerung daran, was du dort bis jetzt erlebt hast, löschen. Leider sind jedoch auch unsere Möglichkeiten nicht unbegrenzt. Das, was ab jetzt in deinem Bewusstsein ist, das müssen wir dir lassen, das kannst du, musst du, wirst du mitnehmen auf unseren Planeten.“
Es ist interessant, wenn man jetzt die Zeitspanne bis zu dem Augenblick, in dem man auf den anderen Planeten gebeamt wird, immer mehr verkürzt, diesen Zeitpunkt immer näher schiebt. Dann komme ich in der Zeit der Nicht-Zeit immer näher.
Wenn ich noch ein Jahr Zeit habe, kann ich vielleicht merken, was mir wirklich wichtig ist.
Vielleicht wird mir bewusst, dass ich schon immer lernen wollte, Klavier zu spielen. Und es lohnt sich doch noch, anzufangen. Ich will doch kein Konzertpianist werden.
Wenn mir noch 2 Monate bleiben, wird mir vielleicht klar, dass ich unbedingt noch die Nationalparks im Südwesten der USA sehen will: den Grand Canyon, die Coyote Buttes, das Monument Valley. Und die Zeit reicht ja für eine solche Reise.
Was passiert, wenn ich heute um 24 Uhr auf XY gebeamt werde, ich also nur noch diesen Tag habe, habe ich nach dem Aufwachen mal in meiner Phantasie durchgespielt.
Es wäre der letzte Gang zum Bäcker, um morgens die Brötchen zu holen. Und weil es das letzte Mal wäre, wär’ es wie ein erstes Mal.
Ich würde natürlich alles erledigen, was ich Anderen versprochen habe - soweit das an diesem Tag möglich ist,
Ich würde Freunden einen kurzen Abschiedsgruss senden.
Und dann würde ich mir die Frage stellen: „Wen oder was will ich noch mal sehen, noch mal hören?“, und würde die Antwort darauf leben:
Ich würde noch mal meine Lieblingsmusik auflegen.
Ich würde meine Enkelin anrufen, um ihre Stimme noch mal zu hören. Vielleicht würde ich auch zu ihr fahren, um sie noch mal zu seh' n.
Ich würde mir noch mal meine schönsten Fotos anschauen.
Ich würde noch mal an den Rhein gehen, der Strömung und den Schiffen zuschauen.
Ich würde noch mal mit meiner Frau einen argentinischen Tango tanzen.
Warum kann ich diesen Tag nicht wirklich so leben?
Warum lebe ich nicht jeden Tag als letzten Tag?
Im Film „Und ewig grüßt das Murmeltier“ muss die verdrießlich-nörglerische, ironisch-sarkastische Hauptfigur, der egozentrische "Wetterfrosch“ eines Fernsehsenders, immer wieder denselben Tag erleben, so lange, bis er gelernt hat, ihn mit der größtmöglichen Lebensqualität zu füllen. Dieser Tag ist gewissermaßen ein Test, eine Prüfung, die er bestehen muss, um für die nächste Aufgabe zugelassen zu werden. Er kann diese Prüfung unbegrenzt oft wiederholen, muss das jedoch auch, bis er so viel gelernt hat, dass er die Prüfung schafft. Bis dahin stockt der Fluss der Zeit, friert ein, erstarrt.
Als erstes merkt er – seiner selbstbezogenen Eigen-Art entsprechend – dass ihm diese merkwürdige Daseinsform ja Gelegenheit gibt, alles zu tun, wozu er Lust hat und endlich alles zu unterlassen, wozu er keine Lust hat. Er kann sich leisten, nicht mehr nach der Pfeife anderer zu tanzen. Er muss sich an keine Spielregeln mehr halten, weil es keine Strafe dafür gibt, sie nicht einzuhalten. Er kann über die Stränge schlagen, „sich daneben benehmen“, ohne dafür gemaßregelt zu werden. Er kann seine Gelüste und Begierden ausleben, ohne einen Preis dafür bezahlen zu müssen, Orgien und Exzesse später bereuen zu müssen.
Nichts, was er tut, hinterlässt ja Spuren, hat bleibende Wirkungen.
Doch dieses Leben frei von Konsequenzen verliert mit der Zeit - in der Zeit - seinen Reiz.
Als nächstes versucht er, seine Macht über die Zeit, sein Wissen von Vergangenheit und Zukunft, die ihm das ewige Wiederholen desselben Tages verschafft, dazu zu nutzen, Macht über andere Menschen auszuüben – sie für seine eigenen Ziele und Zwecke zu missbrauchen:
Sein Vorher-Wissen, wie etwas ablaufen wird, dazu, genau im richtigen, einzig möglichen Zeitpunkt eine Tasche mit Geldscheinen aus einem Transporter zu stehlen, in Gegenwart des für diesen einen Moment abgelenkten Wachpersonals.
Sein Wissen um die Lebensgeschichte der Anderen dazu, sie zu manipulieren, geschickt zu beeinflussen.
Vor allem versucht er, Frauen zu verführen; was ihm bei denen, an denen ihm nicht viel liegt, auch gelingt.
Doch auch der Rausch der Macht ist nicht für immer befriedigend, nicht erfüllend.
Auch alle seine weiteren Bemühungen sind auf die Dauer nicht erfüllend, reichen nicht aus, die Ewigkeit zu füllen.
Sie erschöpfen sich, führen irgendwann nicht mehr weiter, enden als Sackgasse.
Er muss immer wieder neue Wege – Auswege – suchen, die jedoch auch irgendwann alle sinnlos werden.
Auch durch Selbstmord kann er sich nicht aus seinem Gefängnis, der Hölle der ewigen Wiederkehr, befreien.
Schließlich merkt er, dass es ihm eigentlich darum geht, das Herz seiner herzlichen, liebenswürdigen Kollegin zu gewinnen. Er versucht, für sie liebenswert zu werden, indem er sich immer mehr an sie anpasst, sich immer mehr in ihr Fühlen einfühlt, immer mehr ihre Einstellungen und Werte übernimmt.
Doch seine Verführungsversuche enden schließlich alle doch mit Zurückweisung und Ablehnung.
Er will eben immer noch geliebt werden, will nicht selber lieben.
Er hat eben immer noch eine Absicht, ist immer noch auf sich selbst bezogen.
Und diese Absicht wird von der absichtslosen, selbstlosen Liebe trotz immer raffinierterer Tarnung und Täuschung schließlich doch durchschaut – oder vielleicht mehr „durchfühlt“ – und abgewiesen.
Durch das ständige Bemühen, sich mit manipulativer Absicht immer mehr bei seiner Kollegin beliebt zu machen, passiert jedoch etwas, was er nicht beabsichtigt hat, was er nicht geplant hat und womit er auch nicht gerechnet hat: er wird ihr wirklich immer ähnlicher. Er fängt an, auch selbst immer lebensbejahender und menschenfreundlicher zu denken.
Doch auch das führt nicht dazu, dass er aus seinem Gefängnis befreit wird. Auch liebevolles Denken reicht nicht.
Erst als er auch anfängt, liebevoll zu handeln, löst sich der Bann.
Er bleibt gefangen in sich selbst, bis er den einen Weg gefunden hat, der ewig sinnvoll bleibt, der nie sinnlos wird.
Bis er gelernt hat: Nur was man in tätiger Liebe lebt, das kann man für immer leben, kann man immer wieder leben.
Er könnte diesen Tag jetzt ewig leben, genau so, wie er ihn lebt.
Er wäre so, wie er ihn lebt, vollkommen – es würde nichts fehlen, es würde nichts stören.
Er müsste diesen Tag nicht anders leben.
Und genau jetzt, wo er nichts mehr lernen muss, wo er nichts mehr lernen kann,
kann er den nächsten Tag leben, den nächsten Tag lernen.
Wie es ist, wenn man nur noch einige Sekunden hat, zeigt sehr schön folgende kurze Geschichte, die Buddha zugeschrieben wird:
Ein Mann rennt über eine Hochebene, verfolgt von einem Tiger. Der Tiger kommt immer näher, wird ihn bald einholen. Da kommt der Mann an einen Abgrund. Um nicht vom Tiger gefressen zu werden, springt er hinein - und hat Glück. In der sonst kahlen Felswand wächst ein einziger Walderdbeerstrauch. Den kann er im letzten Moment greifen und sich mit einer Hand an ihm fest krallen. Doch er weiß: er wird sich nur wenige Sekunden halten können. Dann wird er in den Tod stürzen.
In dieser ausweglosen Lage sieht er, in der Nähe seiner Hand, eine einzige Walderdbeere. Er bietet seine letzte Kraft auf und greift mit der freien Hand nach der leuchtend roten Frucht. Wie wunderbar schmeckt doch diese Walderdbeere!
Was verändert sich, wenn die Xypsiloniten nur den letzten Moment vor dem Hochbeamen mir lassen müssen, ihn nicht löschen können?
Dann ist dieser Augenblick der einzige, den ich je gelebt habe.
Dann ist dieser Augenblick der einzige, an den ich mich erinnern kann, erinnern werde.
Wenn ich dann nicht die Frage stelle: „Wie wird es auf XY sein?
„Was wird mich da erwarten?“;
wenn ich dann nicht darauf warte, was im nächsten Augenblick geschehen wird,
wenn ich dann nichts erwarte, auf nichts warte,
wenn ich dann im Jetzt bleibe, in diesem Augenblick,
dann habe ich mich entschieden, zeit-los, frei von der Zeit zu leben.
Dann habe ich verstanden, was die Nicht-Zeit ist,
Dann ist dieser Augenblick der einzige, den es gibt, die einzige Zeit, die es gibt.
Dann habe ich die Nicht-Zeit erreicht, lebe ich in der Nicht-Zeit, bin ich Nicht-Zeit.
Dann bin ich da angekommen, wo ich schon die ganze Zeit gewesen bin. Ich wusste es nur nicht.
Dann lebe ich das, was ich schon immer war.
„Schon ehe Abraham ward, ist das ,Ich Bin`.“
Publiziert am: Mittwoch, 18. März 2020 (572 mal gelesen)
Copyright © by Rudolfo Kithera
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