Ich will sehen
Ich will sehen -
ohne Ab-Sicht,
ohne An-Sicht.
Mit einer Absicht
kann ich nicht mehr unbefangen sehen.
Mit einer Ansicht
kann ich nicht mehr offen alles sehen.
Ich will sehen, um zu sehen -
frei von jeder Richtung,
frei in jede Richtung.
Ich will nur eine Ein-Sicht,
die alles das, was da ist,
im klaren Licht durch-sichtig macht,
und eine Über-Sicht und Um-Sicht,
die nichts auslässt, die nichts weglässt,
die mich nichts über-sehen lässt.
Ich will einfach sehen:
Das, was hier ist,
das, was jetzt ist,
so, wie es wirklich ist.
PS:
Leb' ohne Ab-sicht, An-Sicht, Auf-Sicht!
Lebe mit "Mit-Sicht"!
Lebe mit Vor-Sicht, Rück-Sicht, Nach-Sicht!
Kommentar:
Der letzte Trumpf, er ist jetzt ausgespielt.
In meiner Hand bleibt nur noch eine Lusche,
mit der ich keinen Stich gewinnen kann.
Doch wenn ich sie nicht gegen Andere spiele,
sie nur für sich alleine gelten,
nur ihre Form und Farbe auf mich wirken lasse,
ist auch Herz Sieben wirklich eine schöne Karte.
In einem schönen Waldgebirge, an einem schönen Weg, liegt eine schöne Höhle.
Ein Räuber kommt vorbei und hat den Gedanken:
„Was für ein schöner Ort, um sich zu verstecken!“
Ein Kaufmann kommt vorbei und hat den Gedanken:
„Was für ein schöner Ort, um Waren zu lagern!“
Ein Krieger kommt vorbei und hat den Gedanken:
„Was für ein schöner Ort, um ein Turnier auszutragen!“
Ein Schauspieler kommt vorbei und hat den Gedanken:
„Was für ein schöner Ort, um Theater zu spielen!
Ein Weiser kommt vorbei und hat den Gedanken:
„Was für eine schöne Höhle!“
Als ich dieses Gedicht einmal in einem kleinen Kreis von Freunden vorlas, sagte einer von ihnen - sichtlich genervt:
„Das geht doch gar nicht! Man kann etwas gar nicht so sehen, wie es wirklich ist.“
Vielleicht hat er Recht.
Vielleicht ist der Glaube, "richtig" sehen zu können, naiver Größenwahn.
Vielleicht verführt der Wille, es tatsächlich zu versuchen, zu einem aussichtslosen Irrweg, einer Pilgerfahrt, auf der man das Ziel nie erreicht.
Es ist ja keine Frage, ob es eine letzte Wirklichkeit gibt.
Ob wir sie auch erkennen können, ist durchaus eine Frage.
Doch vielleicht können wir uns ihr in Stufen immer mehr annähern -
von einem Sehen, das eindeutig falsch ist,
aufsteigen zu einem Sehen, das weniger falsch ist.
Wir können erkennen, was uns daran hindert, richtig zu erkennen.
Wir können sehen, was uns falsch sehen lässt.
Wer einen Baum nur von einer Seite sieht, kann ihn nicht richtig sehen -
wer ihn nur sieht, um ihn zu fällen, auch nicht.
Mit einer Ansicht, mit einer Absicht kann ich nicht richtig sehen.
Doch wenn ich das sehe, kann ich die Ansicht und die Absicht los lassen.
Ob wir dann den Baum so sehen, wie er wirklich ist, bleibt eine Frage.
Doch wir haben uns der Wirklichkeit, wie sie ist, wenigstens etwas angenähert.
Und das ist etwas wert,
genug, dass es sich lohnt, sich auf den Weg zu machen.
Publiziert am: Dienstag, 17. März 2020 (980 mal gelesen)
Copyright © by Rudolfo Kithera
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