Wie tanzt man denn nun auf dem Seil?
Lieber Leser, ich weiß auch noch nicht, was das Ich-Bin dem Besucher noch alles über Hartmuts Entgleisung ins Nicht-Tun erzählen wird. Und wie er ihm klar machen will, auf welchem Weg Hartmut denn in seine Mitte zurückgefunden hat, ist mir auch noch ein Rätsel. Immerhin muss Hartmut ja wieder ins Gleichgewicht gekommen sein. Denn wie hätte er sich sonst in das Ich-Bin hinein „opfern“ können.
Ich kann dir aber schon sagen, wie das Gespräch über dieses Thema enden soll:
„Sie fragen mich natürlich zu Recht: „Wie sieht denn nun der Tanz auf dem Seil aus? Sie sind doch ein Ich-Bin. Sie wissen doch, dass Sie es sind, haben es nicht vergessen. Sie können sich deshalb doch nicht verirren, können die Mitte halten, sich auf dem Seil halten, fallen nicht auf der einen oder der anderen Seite runter.“
Wie ich schon deutlich gemacht habe, hat Hartmut die Frage nach Tun und Lassen ich-zentriert (nicht! egozentrisch) verkürzt gestellt:
Es geht beim Handeln ja nicht um das Gleichgewicht in mir zwischen Ruhe und Bewegung, Sein und Werden.
Es geht um das Gleichgewicht zwischen mir und dem Universum, um mein Mit-Wirken am Werk des Schöpfers.
Daher ist das, was ich Ihnen jetzt sage, eine richtige Antwort auf eine falsche Frage.
Ich möchte diese Frage so beantworten, wie es mein Freund, das Ich-Bin des großen Nagarjuna, täte.
Dafür muss ich jedoch etwas ausholen, in den Bereich der Logik.
Welche Lage kann ein Punkt auf einem Blatt Papier haben, wenn Sie eine Kreislinie zeichnen, die das Blatt in eine Innenfläche A und eine Außenfläche B teilt?
Dann kann der Punkt vier mögliche Lagen haben:
Er kann entweder in A liegen, nicht in B.
Oder er kann in B liegen, nicht in A.
Und er kann auf der Kreislinie liegen.
Dann liegt er sowohl in A als auch in B.
Genauso gut könnte man jedoch sagen.
Dann liegt er weder in A noch in B.
Sie haben hier die vier logischen Möglichkeiten, die es bei jeder Gegensatzeinheit gibt.
Das übertragen wir jetzt auf unsere Frage nach Handeln und Nicht-Handeln:
Wir „zeichnen“ auch in die eine, ganze Wirklichkeit eine unterscheidende „Kreislinie“, die sie in den Gegensatz von Tun und Lassen teilt und trennt.
Auch hier haben wir jetzt zunächst zwei Entweder-Oder-Möglichkeiten:
Die Situation legt nahe, entschlossen zu handeln.
Oder sie legt nahe, gelassen nicht zu handeln.
Manchmal geht es darum, mutig zu tun.
Manchmal geht es darum, friedvoll zu lassen.
Abwechselnd, im Rhythmus, an den Werktagen und in der Arbeitszeit das eine, an Ruhetagen und am Feierabend das Andere.
Diese Alternative kommt ja sehr schön im „Gelassenheitsgebet“ zum Ausdruck:
Gott gib mir
die Gelassenheit,
die Dinge anzunehmen,
die ich nicht ändern kann,
den Mut,
die Dinge zu ändern,
die ich ändern kann,
und die Weisheit,
den Unterschied zu sehen!
( Reinhold Niebuhr)
Und wie bei jeder Entweder-Oder-Frage kommt es nicht nur darauf an, möglichst klar zwischen den Möglichkeiten zu unterscheiden, sondern sich auch eindeutig für eine davon zu entscheiden und sie mit treuer Entschlossenheit ganz-herzig zu leben.
Die beiden anderen logischen Möglichkeiten gibt es natürlich auch:
zu handeln, ohne zu handeln
nicht zu handeln, ohne nicht zu handeln.
Im Handeln nicht zu handeln
Im Nicht-Handeln zu handeln
zu tun, indem ich lasse
zu lassen, indem ich tu.
(Was genauso gut bedeutet, dass ich weder tu noch lasse)
Das ist das schon mehrfach angeführte Ideal der Bhagavad-Gita.
„Wer im Handeln Nicht-Handeln sieht
und im Nicht-Handeln Handeln, ist ein Weiser unter den Menschen. Verwirklicht hat er alles Handeln.“
(Bhagavad-Gita IV, )
Das ist das absichtslose Handeln des Zen:
nur das Tun zu wollen, nicht das Ergebnis, den Erfolg;
jede Absicht beim Handeln los zu lassen, um mit aller Kraft und ungeteilter Aufmerksamkeit ausschließlich und ganz beim Handeln zu sein, im Handeln zu sein.
Die Mitte besteht natürlich darin, keine Vorliebe zu haben,
weder für das Handeln noch für das Nicht-Handeln.
Das Handeln weder zu suchen noch zu vermeiden;
Das Nicht-Handeln weder zu suchen noch zu vermeiden.
Alle vier Möglichkeiten von Handeln und Nicht-Handeln gleich-wertig, gleich-gültig zu leben - das ist der Tanz auf dem Seil.
PS:
Im Hintergrund stellt sich natürlich die Frage, ob denn überhaupt die Wirklichkeit wirklich in diese Gegensatz-Einheit geteilt ist, ob man die Ganzheit überhaupt durch eine Unterscheidung trennen muss und sollte.
“Das ist Ihnen zu unpraktisch. Nun, wie das ideale Tun und Lassen im Einzelfall aussieht, kann ich Ihnen natürlich nicht sagen. Das abstrakte Prinzip müssen Sie in jeder Situation selbst konkretisieren, in jeder Situation selbst finden, was für Sie stimmt und passt."
Publiziert am: Sonntag, 08. März 2020 (1141 mal gelesen)
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