Der Tanz auf dem Seil II
Aber Sie wollen natürlich endlich mehr darüber erfahren, was Hartmuts Seiltanz war: Das Gleichgewicht zu finden zwischen Wahrnehmung (Nicht-Handeln) und Handeln. Das war für ihn ein Thema, das sich wie ein roter Faden durch sein Leben zog. Schon in seiner ersten Therapieausbildung sagte sein Ausbilder (Klaus Lumma) einmal zu ihm:
„Wenn du was siehst, tust du nichts mehr.
Wenn du was tust, siehst du nichts mehr.“
Wahrnehmen und Handeln schalteten sich ab, schlossen sich gegenseitig aus.
Er neigte dazu, blind vorwärts zu stürmen oder beschaulich untätig zu sein.
Sowohl diese Schwierigkeit als auch ihre Auflösung, die Frage wie die Antwort, sind ja genial verdichtet in einem Vers der Bhagavad-Gita, der einer von Hartmuts Lieblingsversen war:
You have control over action alone,
never over its fruits.
Live not for the fruits of action,
nor attach yourself to inaction!
Du hast Kontrolle nur über dein Handeln,
niemals über dessen Früchte.
Lebe nicht für die Früchte des Handelns,
noch hafte am Nicht-Handeln!
(Bhagavad-Gita II, 47)
In der jüdisch-christlichen Kultur wird ja nahe gelegt, die beiden Pole abwechselnd zu leben als Arbeit und Urlaub, Werktage und Sabbat (Sonntag), Arbeitsstunden und Feierabend. Und auch die Römer kannten den Unterschied von otium, Muße und neg-otium, „Nicht-Muße“, Pflicht.
Man läuft unten auf dem Boden, mal links, mal rechts vom Seil.
Hartmut dagegen wollte auf dem Seil tanzen.
Sein Anspruch bestand darin, beide Seiten ineinander zu schieben, sie gleichzeitig zu leben:
Ganzherzig mit Einsatz aller Kräfte zu wollen, doch nicht, um damit etwas zu erreichen, als Mittel zum Zweck; sondern statt dessen das gegenwärtige Handeln selbst zu wollen, als Selbst-Zweck, mit aller Macht das zu wollen, worüber er allein und ausschließlich Macht hatte, sein eigenes Handeln. Der Erfolg, „die Früchte des Handelns“, hingen ja nicht von ihm allein ab, standen nur bedingt und begrenzt in seiner Macht. Und da dieses Handeln ja sich selbst zum Ziel hatte, ruhte dieses Handeln gewissermaßen in sich selbst, war gleichzeitig Nicht-Handeln. Sein Ideal war, "Handeln im Nicht-Handeln und Nicht-Handeln im Handeln“ (Bhagavad-Gita...) zu leben. Er wollte stehend geh’ n und gehend steh’ n.
Das wäre der Tanz auf dem Seil gewesen, das absichtslose Handeln des Zen, das „yogastah kuru karmani“ der Bhagavad-Gita:
„Fest stehend in der Einheit, begehe deine Taten!“
(Bhagavad-Gita II, 48)
Doch bei dem Bemühen, sich nicht mehr mit den Zielen des Handelns zu verhaften, nicht mehr an das Ergebnis, den Erfolg zu binden, nicht auf der einen Seite vom Seil zu fallen, verhaftete sich Hartmut an das Nicht-Handeln, fiel auf der anderen Seite runter.
Publiziert am: Sonntag, 08. März 2020 (1153 mal gelesen)
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