Leben in dem, was noch da ist


 

Dass man sich unglücklich macht, wenn man versucht, in dem zu leben, was nicht mehr da ist, zeigt folgende Geschichte:

 

Landgut und Stadthaus

Stell dir vor, lieber Leser, du besitzt irgendwo ein großes Landgut. Du lebst mit deiner kleinen Familie, deiner Frau (deinem Mann) und zwei kleinen Kindern, in einem großzügigen Herrenhaus, das von einem weiträumigen Park im englischen Stil umgeben ist. In den Stallungen stehen deine eigenen Pferde, und jeden Morgen reitest du aus durch den Wald, der auch noch zu deinem Grund und Boden gehört. Eines Tages jedoch bricht ein Krieg aus, der siegreich vorrückende Feind besetzt das Gebiet, in dem auch dein Landgut liegt. Du musst mit deiner Familie fliehen, in die von einer dicken hohen Mauer geschützte Stadt, und erinnerst dich in diesem Augenblick daran, dass du ja dort auch noch ein Haus hast, um das du dich schon längere Zeit gar nicht mehr gekümmert hast. Du fährst also mit dem Planwagen, den du mit dem wertvollsten und wichtigsten Hab und Gut beladen hast, durch das Haupttor in die Stadt und biegst in die Straße ein, in der dein vernachlässigtes Stadthaus liegt. Als du dich deinem neuen Zu-Hause näherst, siehst du auf der linken Seite der Straße einen kleinen Platz, auf dem ein paar schattenspendende Bäume stehen und der von einer Schar Tauben bevölkert wird. Als du dein Haus betrittst, merkst du, dass sich der Staub von Monaten in den Räumen angesammelt hat; es riecht abgestanden und muffig, weil schon lange nicht mehr gelüftet worden ist, und in den Ecken haben Spinnen ihre Netze gewoben. Die unbewohnten Zimmer wirken kalt und sind fast leer, werden nur von wenigen Möbelstücken gefüllt, die irgendwo verloren herumstehen. Als du einen Blick in den Garten wirfst, siehst du, dass er verwildert ist und lebenskräftiges, wachsfreudiges Unkraut die meisten Blumen und Stauden überwuchert hat. Nur in einer Ecke haben sich drei schöne Sonnenblumen behauptet.

In dieser Lebenssituation hast du nun die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten, weiter zu leben. Die erste besteht darin, dass du dich nicht mehr als unbedingt notwendig darum kümmerst, wie du in deiner neuen Umgebung leben kannst und willst. Du stellst nur schnell irgendwo die wenigen Habseligkeiten ab, die du aus dem Landgut retten konntest, sorgst dafür, dass du irgendeinen Schlafplatz für die Nacht bekommst. Und dann eilst du sofort zur Stadtmauer, steigst auf einen Turm, von dem du dein Landgut, das in Sichtweite der Stadt liegt, sehen kannst, und starrst ununterbrochen auf dein „verlorenes Paradies.“ Du siehst dann, dass die Feinde gerade dabei sind, deine Obstbäume zu fällen, um daraus Brennholz für den Kamin zu machen, und dass der Kommandant der feindlichen Truppen gerade eines deiner Pferde besteigt, um damit durch deinen Wald zu reiten. Erst als es dunkel geworden ist und du nichts mehr sehen kannst, kehrst du niedergeschlagen und schwerfällig, als hätte man dir dicke Bleikugeln an die Füße gebunden, in dein Stadthaus zurück, dem du nach wie vor keine Beachtung schenkst. Du lässt dich nur auf dein provisorisches Nachtlager fallen und kannst, obwohl du vom schweren Kummer ermüdet bist, lange nicht einschlafen, weil die Erinnerungen an das, was du vom Turm aus gesehen hast, dich nicht zur Ruhe kommen lassen. Am nächsten Morgen steigst du, sobald es hell geworden ist, wieder auf die Stadtmauer und bleibst dort bis zum Einbruch der Dunkelheit. Und dieser Tagesablauf wiederholt sich, bzw. du wiederholst ihn, Tag für Tag, immer wieder, immer wieder das Gleiche.

Die andere Möglichkeit, weiterzuleben, die du wählen kannst, besteht darin, dass du dir sagst: Auch wenn es schmerzvoll ist, ich muss den Mut haben, den Tatsachen ins Auge zu sehen, die Wirklichkeit so zu akzeptieren, wie sie ist. Das Landhaus ist verloren, für eine Zeitspanne, die ich nicht einschätzen kann, oder sogar für immer. Es ist für mich nicht mehr da, und in etwas, was nicht da ist, kann man nicht leben. Man kann nur in etwas leben, was ist. Das Landgut ist nicht mehr da, aber dieses Stadthaus hier, das ist noch da. In ihm muss ich jetzt leben, und ich kann auch darin leben, weil das, was jetzt schon da ist, als Anfang genug ist und man mehr daraus machen kann. Dieses Stadthaus ist nicht mein prächtiges Herrenhaus drüben auf meinem Landgut, aber es ist immer noch geräumig genug, hat mehr Räume, als ich brauche und sogar mehr, als ich mit dem wenigen Hab und Gut, was mir geblieben ist, füllen kann. Die Zimmer sind groß genug, dass man sich darin frei bewegen kann, und viele Fenster lassen das Licht herein. Ich muss nur die Vorhänge zurückziehen und die Holzblenden öffnen. Wenn ich mal richtig durchlüfte, riecht es auch bald nicht mehr muffig. Frische, gesunde Luft aus dem Garten strömt dann herein. Ich nehme dann die paar Möbelstücke, die Stühle, kleinen Tische und die antike Kommode, die ich aus dem Landgut retten konnte, und richte mich damit so gut wie möglich ein. Gut, das gibt dann immer noch nicht die elegante, geschmackvolle Einrichtung drüben im Herrenhaus, aber ich kann es mir schon einigermaßen gemütlich machen - doch, ich kann es mir gemütlich machen. Dann bringe ich mal wieder Ordnung in den verwilderten Garten, entferne das wuchernde Unkraut und schaffe dadurch den Blumen wieder Raum, in dem sie wachsen können. Als Nächstes nehme ich von den Samen der drei Sonnenblumen einen Teil und säe ihn aus, damit ich mich im nächsten Jahr schon an vielen Sonnenblumen erfreuen kann. Den Rest der Samen verwende ich dafür, die Tauben auf dem kleinen Platz mit den paar Bäumen zu füttern. Sicher sind diese kleinen Vögel nicht meine prächtigen Pferde, aber auch sie sind liebenswerte Geschöpfe, die leben, lebendig sind und sich lebhaft bewegen, und es macht Spaß, ihnen zuzusehen. Und diese paar Bäume sind nicht mein großartiger Wald drüben auf dem Landgut. Aber auch sie spenden wohltuenden Schatten, Schutz vor der Hitze der Mittagssonne.




 

Wenn du darüber klagst und trauerst,

dass deine Mutter leider nicht mehr lebt,

dass du sie nicht mehr bei dir, um dich hast,

dann mache dir doch tröstend etwas klar:

Dass ja ihr Bild in dir immer noch da ist,

dass du ja das gar nicht verloren hast,

dass du es auch gar nicht verlieren kannst,

als reichen Schatz, der sich nie aufbraucht,

auf den du Zugriff hast zu jeder Zeit,

weil er in dir liegt, jetzt für dich erreichbar,

als Quelle, nicht versiegend sprudelnd,

von Mut, Vertrauen, Sicherheit und Kraft.

(aus "Eine Mutter haben, eine Mutter sein")





 

Truhengeschichte

 

Stell dir vor, lieber Leser, du besitzt eine Truhe, die halb voll, halb leer ist. Die untere Hälfte ist gefüllt mit wertvollen Juwelen, die in allen Farben glänzen: rote Rubine, grüne Smaragde, blaue Opale, auch einige Diamanten, die strahlend das Licht brechen. Die obere Hälfte ist leer und wird auch leer bleiben. Du weißt: Es werden keine weiteren Juwelen mehr dazukommen. Die Zeit, in der du Edelsteine gesammelt hast, in der dir Edelsteine geschenkt wurden, sind für immer vorbei.

Wenn du den Deckel der Truhe öffnest, hast du zwei mögliche Sichtweisen.
Du kannst auf die Juwelen sehen, die in der Truhe liegen, und dir sagen. „ Das ist mein Schatz. Der ist da, der gehört mir, der bleibt mir, den kann mir keiner mehr nehmen. Ich freue mich darüber und bin dankbar dafür, dass ich diese Juwelen sammeln konnte.“

Du kannst auch auf die leere obere Hälfte schauen und dir sagen: „Diese Truhe wird nie voll werden, noch nicht einmal voller. Dieser Schatz wird nicht mehr zunehmen. Es wird immer etwas fehlen. Ich bin traurig, weil mir die Hoffnung auf mehr genommen ist, und unzufrieden, weil das, was in der Truhe liegt, nicht genug ist.“

 

Publiziert am: Samstag, 06. Februar 2016 (1356 mal gelesen)
Copyright © by Rudolfo Kithera

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