Der Besucher

Die folgende Geschichte habe ich kurz nach Weihnachten geschrieben, in den Tagen, in denen das Licht neu geboren wird, das uns von der Dunkelheit erlöst. Doch eigentlich ist es eine Ostergeschichte: eine Geschichte von Opfer-Tod und Auferstehung, in der etwas (durchaus Hohes!) stirbt, damit etwas noch Höheres geboren werden kann.

 




Hartmut und das Ich-Bin

 

 

Der Besucher

„Ach, Sie suchen Hartmut. Der ist nicht mehr da.“

„Ja, natürlich hat er hier gewohnt. Doch ich glaube, ich hab’ mich etwas unklar ausgedrückt. Ich hab’ ja nicht gesagt: „Er ist nicht mehr hier.“ Ich habe gesagt: „Er ist nicht mehr da.“

„Wo denn da der Unterschied liegt? Hartmut ist nicht mehr hier, er ist auch nicht mehr anderswo, er ist nirgendwo mehr.
Er hat sich umgebracht, vor zwei Tagen, hier in dieser Wohnung. Oder ich müsste eigentlich ja gestehen: Ich habe ihn umgebracht.“

„Ja. Gehen Sie ruhig zur Polizei! Niemand wird Ihnen glauben. Ich sehe genauso aus wie er. Jeder wird glauben, ich sei er, sogar seine Familie, seine Freunde. Vielleicht werden sie nur merken, dass ich plötzlich weniger dummes Zeug rede, werden sich wundern, wie er sich verändert hat.
Wie haben beide in diesem Körper gelebt - wie Dr Jekyll und Mr. Hyde - wobei er natürlich Mr. Hyde war und ich Dr. Jekyll. Aber Spaß beiseite. So schlimm war Hartmut ja gar nicht. Er hatte nur einfach - neben vielen Stärken - auch Fehler und Schwächen, an denen er litt, durch die er litt, durch die er auch andere leiden ließ. Ich dagegen - auch wenn das für Sie überheblich und größenwahnsinnig klingt - habe keine Fehler und Schwächen, leide deshalb nicht und lasse auch Andere nicht leiden.“

„Oh, entschuldigen Sie! Ich habe ganz vergessen, mich vorzustellen. Ich heiße „Ich-Bin-Der-‚Ich-Bin’“, manchmal auch „Ich-Bin-Das-‚Ich-Bin’“. Sie können mich auch einfach „Ich-Bin“ nennen.“

„Nein, einen anderen Namen habe ich nicht. Was heißt denn auch schon ‚richtiger Name’?
Also, wo war ich stehen geblieben? Richtig, dabei, dass wir beide zusammen in diesem Körper gelebt haben. Nur mit einem Unterschied. Er glaubte, dass er dieser Körper sei, dass er ohne diesen Körper gar nicht leben könnte. Ich wusste, dass ich etwas anderes war als dieser Körper, etwas Größeres, auch der Körper, aber nicht nur, dass der Körper nur ein Teil von mir war, ein kleiner, im Grunde unbedeutender Teil, den ich auch verlassen konnte.“

„Nun, warum habe ich ihn umgebracht? Das ist natürlich eine naheliegende Frage. Ich hab’ mich schon gewundert, dass sie die nicht schon eher gestellt haben.
Einfach, weil er mir im Weg stand - sehr im Weg stand.
Solange er lebte, konnte ich nur ein Schatten an seiner Seite sein. Ich konnte erst wirklich leben, wenn er nicht mehr lebte.
Aber eigentlich hat er sich doch eher selbst umgebracht. Er wollte mir den Platz frei machen. Er hat sich geopfert, weil er sah, dass ich es mehr verdient hatte, zu leben, als er.“


„Ich kann sie ja gut versteh’n! Es ist natürlich jammerschade, dass Sie ihn nicht mehr persönlich kennen lernen konnten. Sie hatten so viel von ihm gehört. Aber ich kann Sie etwas trösten. Ich war ja immer an seiner Seite, habe doch alles mitgehört, was er hörte, mitgesehen, was er sah, wusste immer, was er dachte. Ich kann Ihnen also von ihm erzählen, alles, was Sie wissen wollen.
Ich hätte natürlich auch Sie täuschen können, hätte auch Ihnen vorspielen können, dass ich er bin. Auch Sie hätten nichts gemerkt, wären darauf reingefallen. Aber ich wollte wenigstens einmal jemandem unsere Geschichte erzählen, und Sie scheinen dafür der Richtige zu sein. Sie sind weit gefahren, um ihn zu treffen, scheinen sich ja wirklich ernsthaft für ihn zu interessieren. Und vielleicht kann ich ja sogar dadurch, dass ich Ihnen die Geschichte von Hartmut und dem Ich-Bin erzähle, sie dazu bringen, sich auch ein wenig für mich zu interessieren, nicht nur für Hartmut. Das wäre für Sie viel wichtiger und auch viel wertvoller.
Also fragen Sie ruhig! Ich kannte Hartmut ja schon, als er selbst sich noch gar nicht kannte, nicht einmal seinen Namen, und etwas später, als er zwar wusste, dass er Hartmut hieß, aber noch nicht, dass er ein Ich war, dass er „Ich“ sagen konnte.“

„Ach so, Sie wollen gar nicht so genau hören, was Hartmut schon als Baby und kleines Kind erlebt hat. Gut, was wollen Sie denn sonst von ihm wissen?

„Lieber, warum er denn gerade jetzt gestorben ist. Wissen Sie, Hartmut hätte sich schon vor langer Zeit in mich verwandeln können; und seitdem hatte er viele Male die Gelegenheit dazu. Er hat sie nicht genutzt. Er war einfach noch nicht dazu bereit. Damals, als...."


 

Publiziert am: Sonntag, 08. März 2020 (1094 mal gelesen)
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