Auf der Brücke
Wir stehen jetzt auf der Brücke. Ich möchte gerne mit dir, lieber Leser, hier etwas verweilen. Denn von hier aus können wir beide Ufer überschauen, beide ganz verschiedenen Länder, und können in diesem Überblick gut erfassen, worin denn nun diese Unterschiedlichkeit besteht:
Die bisherigen Gedichte befassen sich mit bestimmten Erfahrungen bestimmter Menschen in Beziehung zu anderen bestimmten Menschen, die getrennt von ihnen mit anderem Bewusstsein in anderen Körpern leben. In dieser Perspektive bin ich vielleicht dankbar, weil ich auf ein erfülltes Leben zurückblicken kann, dankbar für die Erfahrungen, die ich als einzigartiges Individuum auf einem einmaligen Weg allein und im Kontakt mit anderen einzigartigen Individuen machen durfte.
Die Gedichte, die noch vor uns liegen, befassen sich mit jeder Erfahrung jedes Menschen in Beziehung zum Ganzen, mit dem er letztlich eins ist. Jeder kann sagen: „Ich atme. Das ist genug.“ Jeder zu jeder Zeit, in jedem Lebensalter und in jeder Situation. In dieser Perspektive bin ich dem Universum (einschließlich meiner selbst und aller anderen Menschen) dankbar dafür, dass es so ist, wie es ist, Gott dankbar dafür, dass er so ist, wie er ist.
Das Gedicht „Alles getan, alles gescheh’n“ z. B. beschreibt die persönliche Erfahrung eines Menschen, die erst im Alter möglich ist - und zwar nur dann, wenn man „ganz-herzig“ ein engagiertes Leben geführt hat: Alles ist gesagt und getan. Es gibt nichts zu bereuen. Man geht noch weiter, aber mit Ruhe, im Frieden.
Das Gedicht „Einfach so“, auf das ich jetzt schon mal vorgreife, ist eine allgemein-menschliche Entsprechung dazu: Durch eine Vision ist der Unterschied von Gegenwart und Zukunft aufgehoben. Die Zukunft ist schon jetzt. Diese Erfahrung ist jedem Menschen möglich, unabhängig davon, wie er bisher gelebt hat, und in jedem Lebensalter. Weil ich weiß, dass ich schon mit 40, 30 oder auch schon mit 20 Jahren am Ziel bin, kann ich meine Füße mit ruhiger Gelassenheit (und sicherer Entschlossenheit!) in den nächsten Schritt gleiten lassen. Einfach so.
Auf dem diesseitigen Ufer des Flusses gibt es Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Zeit und getrennte Wesen im Raum. „Ich gehe den Weg, den nur ich gehen kann.“
Auf dem jenseitigen Ufer gibt es nur die Gegenwart außerhalb der Zeit, die Nicht-Zeit (die Zeit gibt es nicht mehr), und mit dem Ganzen und zum Ganzen vereinte Wesen im Raum. „Ehe Abraham ward, bin ich.“ (Joh8,58) „Ich und der Vater sind eins.“ (Joh10,30)
In den beiden Ländern, die durch den Fluss getrennt werden, gibt es also ganz unterschiedliche Welten, grundsätzlich andere Wirklichkeitskonstruktionen. Die Welt auf der einen Seite ist eine persönliche, in der eine Vielfalt von Wesen nebeneinander und miteinander (leider auch oft gegeneinander) leben. Sie ist durch die Zahl Zwei bestimmt, ist dualistisch. Die Welt auf der anderen Seite ist über-persönlich (nicht un-persönlich!). Sie ist bestimmt durch die Zahl Eins, die Einheit, ist nicht-dualistisch. Und die Gedichte, die durch beide Welten führen, beschreiben deshalb ganz unterschiedliche Erfahrungen mit unterschiedlichen Zielen.
Das Ideal, der zentrale Wert in den bisherigen Gedichten und Geschichten ist Selbst-Verwirklichung. Es geht in ihnen um wesentliche Grundaspekte der persönlichen Erfahrung wie Freiheit, Selbstverantwortung, Autonomie und Verbundenheit. Sie sind bestimmt durch die Perspektive der einmaligen Person, die ihr eigenes Leben bewusst selbst wollend, mit Eigen-Willen wählend selbst bestimmt, verbunden mit und getrennt von anderen einzelnen, einzigartigen Personen. Diese Gedichte sind existentiell.
Das Ziel, der grundlegende Wert der noch kommenden Gedichte ist dagegen Gott- oder Seins-Verwirklichung. Sie sind spirituell.
Bei der Selbst-Verwirklichung geht es darum, keinem anderen Willen, nur dem eigenen Willen zu folgen und anderen ihren eigenen Willen zu lassen.
„Alles Lebendige ist ein Gehorchendes.
Dem wird befohlen, der nicht sich selbst gehorchen kann.“ (Nietzsche).
Das ist Selbst-Verwirklichung.
Bei der Gott-Verwirklichung geht es darum, keinem eigenen Willen, nur noch einem anderen Willen, dem Willen Gottes zu folgen. Doch der andere Wille ist gar kein anderer mehr, nicht mehr der Wille eines Anderen. Der eigene Wille ist eins geworden mit dem Willen Gottes.
„Vater, nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe!“ (Jeschua der Messias in Gethsemane)
Das ist Gott-Verwirklichung.
Das eine Land ist also persönlich, dualistisch, existentiell.
Das andere Land ist über-persönlich, nicht-dualistisch, spirituell.
(Diese Unterscheidung teile ich mit einigen bekannten spirituellen Autoren, z. B mit Ken Wilber. Ich teile sie dir, liebe Leserin, nur mit.
Du musst sie selbstverständlich nicht mit mir teilen.)
Ich glaube, lieber Leser, wir haben uns jetzt genug noch einmal beide Länder in der Zusammenschau angesehen. Wir können jetzt, wenn du willst, gemeinsam weitergehen und in das Land eintreten, in dem die Nicht-Zeit gilt, in dem die Wege weglos sind.
Publiziert am: Samstag, 06. Februar 2016 (1175 mal gelesen)
Copyright © by Rudolfo Kithera
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