Abgestiegen, um aufzusteigen



 

Einst war ich IHM sehr nah, war reiner, klarer Geist,

bin jedoch jetzt gefallen, abgrund-tief gesunken,

zu einer Seele, die - gefangen und gebunden -

in einem starren, groben, trägen Körper haust

und nicht mehr weiß, wie sie denn wirklich heißt.

 

Ich hab’ den Becher, voll mit schwerem Blei, getrunken,

der mich mein wahres Selbst sofort vergessen ließ.

Ich bin vom hohen Himmel abgestiegen auf die Erde,

wo ich nicht einfach unbefangen das bin, was ich bin,

wo ich durch Irrtum lerne, wachse, leidend etwas werde.


 

Ich war mal Höhe, bin jetzt leider Tiefe.

Ich war mal Licht, bin jetzt statt dessen Glut.

Ich war mal einer, der die Wahrheit schaut,

und der - von ihr gelenkt - sie dann auch tut.

Jetzt bin ich einer, der mit blinden Augen handelt,

ohne zu wissen: „Ist es richtig? Ist es gut?“,

der sich verstrickt in viele „Wenns“ und „Abers“,

der nicht mehr sicher in sich selber ruht.


 

Mein Leben war ein leichtes munteres Spiel,

von Nöten nicht bedrückt, von Zwängen nicht bedrängt,

und nicht beängstigt, unbeschwert von Sorgen.

Jetzt jedoch wieg' ich lang schon viel zu viel,

belaste mich mit Schuld, denke zu oft an morgen.


 

Warum sperrt der ERHABENE mich denn ein

in diesen engen Kerker, diese düstere Gruft?

Warum darf ich denn nicht mehr bei IHM sein?

Warum schickt er mich fort, als wäre ich ein Schuft?


 

Gewiss folgt er auch dabei seinem Plan,

den ich nicht kenn’, den ich nur dunkel ahn’.

Vielleicht weil’ ich getrennt von IHM und ferne,

damit ich für den Himmel etwas lerne,

was ich nur auf der Erde lernen kann:

Ihm nicht in SEINER Gegenwart zu dienen,

wo ich mich SEINER Liebe, SEINEM Licht

von IHM durchdrungen nicht entziehen kann und will,

sondern wo Abstand von IHM mir die freie Wahl lässt,

mich für IHN zu entscheiden - und auch nicht.





 

Lucifer


 

"Ich will mein Licht vor eurem Licht verschließen,

ich will euch nicht, ihr sollt mich nicht genießen,

bevor ich nicht ein Eigenlicht geworden.

So bring ich wohl das Böse zur Erscheinung,

als Geist der Sonderheit und der Verneinung,

doch neue Welt erschafft mein Geisterorden.


 

Aus Widerspruch zum unbeirrten Wesen,

aus Irr-tum soll ein Götterstamm genesen,

der sich aus sich - und nicht aus euch - entscheidet;

der nicht von Anbeginn in Wahrheit wandelt,

der sich die Wahrheit leidend erst erhandelt,

der sich die Wahrheit handelnd erst erleidet."

 

(Christian Morgenstern)






Vox humana


Nieder stieg ich zu vergessen,

was ich einst im Licht besaß

und doch nie bewusst besessen,

weil ich es noch nie vergaß.


Durch Vergessnes muss ich dringen,

selber muss ich, geistgeweiht,

in Erinnerung erringen

meines Wesens Wesenheit.


Graben muss ich Grabeshügel,

sterben lassen, was erstarb,

bis der Freiheit Flammenflügel

sich mein eignes Ich erwarb.


Bis die Worte in mir reden,

die ich unbewusst gewusst,

bis in mir der Garten Eden

mein wird in der eignen Brust.

 

(Manfred Kyber, Genius astri)


 


 

"Im Urbeginn war die Welt mit all ihren Wesen von der einheitlichen Kraft des Guten, das zugleich das Bildende und Schöpferische war, durchwaltet.

Die hierarchischen Wesen standen uneingeschränkt im dienenden Verhältnis zur Gottheit.

Auch der Mensch war unmittelbar der Gottheit zugewandt -

auf dieser Schöpfungsstufe lebte er in einem Zustand, den die Bibel ,das Paradies` nennt.

Nie wäre es ihm möglich geworden, innere Freiheit und Selbständigkeit zu gewinnen, wenn dieser Zustand angedauert hätte.

Wie das Kind nur in der Trennung von der Mutter sich selbst finden kann, so der Mensch in der ,Abwendung' von der Gottheit.

Wohin aber hätte er sich abwenden können, wenn überall die Gottheit waltete?

Es musste ein Freiraum entstehen, in dem das göttliche Wirken nicht zur Geltung kam,

und in dem solche Wesen wirkten, die nicht mehr unmittelbar von dem Göttlichen durchdrungen waren."

(Hans-Werner Schroeder, Mensch und Engel)





 

 

Publiziert am: Donnerstag, 05. März 2020 (1093 mal gelesen)
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