Schirm und Sandalen
Wie schwierig es ist, immer in der Nicht-Zeit zu bleiben, sogar für Menschen, die fast nichts anderes tun als das zu üben, zeigt die folgende Geschichte:
Sie handelt von einem Zen-Mönch, der schon lange den Weg der Achtsamkeit gegangen, auf ihm weit gekommen, in der Kunst, immer in der Gegenwart zu leben, schon weit fort-geschritten ist. Seit sieben Jahren ist er Abt seines eigenen, von ihm damals neu gegründeten Klosters. Damals, vor sieben Jahren, hatte sein Meister ihn, seinen begabtesten Schüler, damit beauftragt, ein Tochterkloster zu gründen. Er hatte den Meister und das alte Kloster verlassen und seitdem nicht mehr wiedergesehen, weil das Gründen des neuen Klosters seine Zeit und Aufmerksamkeit voll in Anspruch genommen hatte, keinen Spielraum für etwas anderes ließ. Jetzt aber war die Zeit des Aufbaus vorbei, das Kloster stand, nach den Versuchen und Irrtümern, der Unruhe und den Aufregungen der Anfangsjahre hatte das Klosterleben zu seinem geregelten Gang und ruhigen, stetigen Gleichmaß gefunden. Jetzt war die Zeit da, mal wieder seinen alten Meister und sein altes Kloster zu besuchen. Und der Abt freute sich sehr darauf.
Dennoch ließ er sich von seiner Vorfreude auf das, was vor ihm lag, nicht davon abbringen, sich mit aller Hingabe und Aufmerksamkeit um das zu kümmern, was jetzt da war, hier da war, ihn ansprach, weil es be-achtet werden wollte, ihn aufforderte, es mit seinen Händen zu ergreifen: die Blumen, die Wasser brauchten, das Brot, das fertig gebacken war und aus dem Backofen gezogen werden wollte. Und er kümmerte sich weiterhin mit der gleichen Fürsorge um jeden einzelnen seiner Mönche, der mit einem Anliegen zu ihm kam, antwortete mit der gleichen gelassenen Ruhe und Geduld auf die Fragen seiner Schüler. Seit Jahrzehnten hatte er sich darin geübt, mit der Aufmerksamkeit bei dem zu bleiben, was jetzt da war, in der Gegenwart zu leben, jenseits von Hoffnung und Furcht. Das war sein Weg gewesen, viele Jahre lang. Auch auf der Reise ließ er sich nicht dazu verleiten, schon mit seinen Gedanken vorwegzueilen, in freudvolle Phantasien über die Zukunft abzuschweifen, sich schon vorzustellen, wie er in seinem alten, aus früheren Zeiten wohlvertrauten Kloster ankommen würde, das so lange sein Zu-Hause gewesen war; oder sich schon vorzustellen, wie er seinem Meister gegenübertreten würde, wie er ihm stolz von der gelungenen Neugründung berichten würde. Nein, er ließ sich nicht dazu verführen, schon in seinen Gedanken an das Ziel der Reise voraus zu eilen. Er blieb auf dem Weg, da wo er jetzt war, bei den Blumen, die ihn mit ihren prächtigen Farben erfreuten, bei den reifen Himbeeren am Wegrand, die gepflückt werden wollten, bei dem Hund, der ein paar Schritte neben ihm herlief und ihn begleitete, bei dem alten Mann, der durstig auf einem Stein saß und etwas Wasser brauchte, bei der jungen Frau, die ihn neugierig etwas fragte und der er freundlich antwortete, obwohl das ihm als Mönch eigentlich verboten war, bei dem kleinen Kind, das um ihn herumsprang und mit ihm spielen wollte.
Aber als er sich jetzt tatsächlich dem Tor des Klosters näherte, auf den letzten Schritten vor dem Ziel, wurde die Vorfreude und sein Wunsch, den geliebten und verehrten Meister wiederzusehen, zu groß. Er blieb nicht in der Gegenwart, er war mit seinem Geist schon in der Zukunft, malte sich aus, wie der Meister ihn freudig begrüßen würde, wie er ihn sofort voller Interesse nach dem neuen Kloster fragen würde. Ein Mitbruder, der ihm sehr nahe gestanden hatte, öffnete ihm das Tor, mit den erstaunten Augen des Wiedererkennens. So wie es Brauch war, zog er seine Schuhe aus und schlüpfte in eines der Sandalenpaare, die für Gäste bereit standen. Und da es geregnet hatte, klappte er seinen Schirm zusammen und stellte ihn irgendwo an die Wand, während sein Geist schon einige Augenblicke voraus war, beim Wiedersehen mit dem Meister, dem er mit Ungeduld entgegensah. Er musste auch tatsächlich nur einige Sekunden warten, da kam der Meister auch schon auf ihn zu. Man hatte ihn sofort von seiner Ankunft unterrichtet und er hatte sich auch, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, von seinem Platz erhoben, um seinen ehemaligen Lieblingsschüler in Empfang zu nehmen. Trotz seiner eigenen ungeduldigen Erwartung bemerkte der Abt noch, dass sein Meister zwar mit schnellen, entschlossenen Bewegungen auf ihn zuschritt, seine Bewegungen aber trotzdem nicht hastig wirkten. Er strahlte bei aller zielstrebigen Bewegtheit eine innere Unbewegtheit aus, so, als würde sich nicht eine Person, sondern das ganze Universum sich in sich selbst bewegen. Der Abt stellte fest, dass sein Meister ihn immer noch, immer wieder in hochachtungsvolles, bewunderndes Sich-Wundern versetzen konnte. Wie er erwartet hatte, begrüßte der Meister ihn auch herzlich und erkundigte sich mit mitfühlender Fürsorge danach, wie es ihm ging. Dann aber geschah etwas, womit der Abt nicht gerechnet hatte. Der Meister fragte ihn nicht, wie er vermutet hatte, nach der gut gedeihenden Klostergründung, sondern etwas ganz anderes: „Sag mal, hast du deinen Schirm rechts oder links von deinen Schuhen abgestellt?“ Der Abt stellte erschrocken fest, dass er das nicht wusste. Als er den Schirm an die Wand lehnte, war er für einige wenige Augenblicke mit seiner Aufmerksamkeit nicht bei dem, was er tat, sein Geist war nicht da, wo sein Körper war, er war geistes-abwesend gewesen. Er hatte sich von seiner Vorfreude verleiten lassen, hatte für einen kurzen Moment den Weg der Achtsamkeit verlassen. Da merkte der Abt, dass er noch nicht würdig war, ein eigenes Kloster zu leiten, wurde noch einmal für sieben Jahre Schüler bei seinem Meister und kehrte erst dann in sein Kloster zurück.
Wenn du, lieber Leser, meinst, dass es sich trotz dieser wenig ermutigenden Erfahrung lohnt, in der Nicht-Zeit zu leben, und das üben willst, findest du HIER einige Anregungen dazu.
Publiziert am: Donnerstag, 05. März 2020 (1033 mal gelesen)
Copyright © by Rudolfo Kithera
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