Die letzte Zeile


 

Wie wäre es für mich, schon jetzt zu sagen

(und nicht erst dann, wenn ich es sagen muss):

„Die letzte Zeile hab’ ich nun geschrieben.

Auf keinem Blatt wird eine weitere steh’n.“
 

Wäre ich traurig, wäre ich erleichtert -

von Druck entlastet, Zwang und Last befreit,

oder verarmt, gehemmt, behindert durch mich selbst ?

Würde ich sagen: „Endlich muss ich nichts mehr schreiben,

krampfhaft nach Worten suchen, die im Rhythmus fließen.“

oder: „Ich hab’ mir selber Fesseln angelegt.“?

 

Ich weiß nicht, wie es wirklich für mich wäre.

Vielleicht würde ich beides fühlen, merkwürdig vermischt:

leichtherziges Froh-Sein und entspanntes Ruh’n im Frieden

neben gebremsten Lebenswillen und gestauter Kraft.





Kommentar:

 

Die letzte Zeile, wohl geformt aus Worten -

das letzte Bild, "mit Licht gezeichnet" (photographiert) -

der letzte Schritt auf unbetretenes Land -

das letzte Gespräch, hilfreich geführt -

 

das hat die entlastende, befreiende Endgültigkeit des Todes.

Es stirbt und wird nicht mehr neu geboren,

hat keine unberechenbare, unklare, ungewisse, vielleicht belastende und bedrohliche Zukunft mehr,

sondern erstarrt zur klaren Gewissheit und Sicherheit,

zur gelassenen Ruhe und zum Frieden der Vergangenheit.

Es geht nicht weiter. Ich muss nicht mehr weitergehen. Ich bin angekommen.

 

Und doch scheint es in uns eine starke Kraft zu geben,

die sich gegen die Beschränkung auf das so angenehme In-Sich-Ruhen der Vergangenheit wehrt,

eine Bereitschaft, dieses harmonische Gleichgewicht aufzugeben,

immer wieder das Risiko des Versagens und Scheiterns in Kauf zu nehmen,

ein mächtiger Wille, gestaltend zu wachsen

und dadurch teilzunehmen am Weiterschreiten des Lebens zu immer höheren Formen.



 

Publiziert am: Dienstag, 03. März 2020 (925 mal gelesen)
Copyright © by Rudolfo Kithera

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