Bedeutungs-frei


 

Nur, wenn es die Welt nicht gibt,

wenn SIE bedeutungs-frei ist,

kann ICH in IHR glücklich leben.

 

Nur, wenn es mich nicht gibt,

wenn ICH bedeutungs-frei bin;

nur, wenn es dich nicht gibt,

wenn DU bedeutungs-frei bist,

kann ICH DIR offen,

kanst DU MIR frei begegnen.

 



 

 

 

 

 

Kommentar: zur ersten Strophe:

 

Die WELT ist,

wie GOTT SIE erschafft,

in jedem Augenblick neu.

 

Sie ist nicht,

wie ich sie sehe,

wie ich sie deute.





„Jeden Abend führt mich Sorbas in Griechenland, in Bulgarien, in Konstantinopel spazieren. Ich schließe meine Augen und sehe. Er hat dieses Labyrinth, den vielgequälten Balkan, an allen Ecken und Enden kennengelernt, und seine kleinen Falkenaugen haben alles schnell, scharf und gründlich erfasst. Er schaut immer wieder erstaunt um sich. Dinge, an die wir gewöhnt sind und an denen wir gleichgültig vorbeilaufen, erscheinen vor seinem aufmerksamen, erstaunten Blick wie schreckliche Rätsel. Er sieht eine Frau vorübergehen und bleibt entsetzt stehen. „Welch ein Geheimnis ist hier verborgen?“ fragt er. „Was ist eigentlich eine Frau, und warum verdreht sie uns so den Kopf? Was ist das schon wieder, kannst du ‘s mir sagen?“ Mit demselben fragenden Erstaunen pflegte er jeden Menschen, einen blühenden Baum, ein Glas frisches Wasser anzusehen. Alles sieht Sorbas täglich zum ersten Mal.

Als wir uns gestern vor die Baracke setzten, er vor sich ein Glas Wein, fragte er mich bestürzt:

„Was hat es wohl mit diesem roten Wasser auf sich, Chef? Aus einem Stück Holz kommen Knospen, später hängen einige saure Kinkerlitzchen daran. Die Zeit vergeht, die Sonne kommt; sie macht das ganze Zeug süß, und wir nennen es Weintrauben. Wir pressen sie, holen den Saft heraus und füllen ihn in Fässer. Er gärt von ganz allein. Im Oktober, am Tag des heiligen Georg, des Trunkenbolds, öffnen wir die Fässer, und es fließt Wein heraus! Was für ein Wunder! Man trinkt diesen roten Saft, und die Seele wird so groß, dass sie in diesem elenden Körper gar keinen Platz mehr hat und den lieben Gott zum Zweikampf herausfordert. Was ist das? Sprich!“ Ich redete kein Wort; ich hörte Sorbas zu und fühlte die Jungfräulichkeit der Welt sich erneuern. Alles Alltägliche und Verblasste nahm seinen alten Glanz wieder an wie damals, als es von Gott erschaffen wurde. Das Wasser, die Frau, der Stern, das Brot kehrten zu ihrer ursprünglichen rätselhaften Quelle zurück, und das göttliche Rad bekam erneut Schwung in der Luft.     

(Nikos Kazantzakis, Alexis Sorbas)





 

„Ich wurde vom Zwitschern eines Vogels draußen vor dem Fenster geweckt. Nie zuvor hatte ich einen solchen Klang gehört. Meine Augen waren immer noch geschlossen, und ich sah das Bild eines kostbaren Diamanten. Ja, wenn ein Diamant ein Geräusch machen könnte, dann würde sich das so anhören. Ich öffnete meine Augen. Das erste Licht der Morgendämmerung sickerte durch die Vorhänge. Ohne jeden Gedanken wusste ich, fühlte ich, dass es über das Licht viel mehr zu erfahren gibt, als wir ahnen. Diese weiche Helligkeit, die durch die Vorhänge sickerte, war Liebe selbst. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich stand auf und ging im Zimmer umher. Ich erkannte das Zimmer, und doch wusste ich, dass ich es nie zuvor wirklich gesehen hatte. Alles war frisch und unberührt, als ob es gerade erst entstanden wäre. Ich nahm einige Dinge in die Hand, einen Bleistift, eine leere Flasche, voll Wunder über die Schönheit und Lebendigkeit von allem.

An diesem Tag ging ich in der Stadt umher, voller Staunen über das Wunder des Lebens auf der Erde, so als wäre ich gerade erst in diese Welt hineingeboren worden.“  

(Eckhart Tolle, Jetzt)






 

Kommentar zur 2. Strophe:

 

ICH bin

  und

DU bist.

Das ist alles.

 

Alles, was folgt,

sind trügerische, betrügerische Bilder,

von mir und dir gemacht,

von mir und dir hinzugefügt.

 

ICH bin nicht,

was ich scheinbar bedeute.

Und DU bist nicht,

was du scheinbar bedeutest.

 

ICH bin nicht

ein begabter oder unfähiger Psychotherapeut.

ICH bin nicht

ein loyaler oder treuloser Partner.

Und DU bist nicht

eine engagierte oder resignierte Lehrerin.

Und DU bist nicht

eine fürsorgliche oder desinteressierte Mutter.

 

 

ICH bin

der, der DICH jetzt wahr nimmt, ernst nimmt und an-nimmt.

Und DU bist

die, die mich jetzt wahr-nimmt, ernst nimmt und an-nimmt.

 

ICH bin

  und

DU bist.

 

Das ist alles.

 

 

Publiziert am: Montag, 25. Januar 2016 (1120 mal gelesen)
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