Shankara auf der Palme
Der große Philosoph Shankara war der Begründer des Advaita-Vedanta („Ende des Wissens ohne ein Zweites“). Er lehrte, dass die Wirklichkeit eine fugenlose und nachbarnlose Einheit sei, in der Unterschiede nur scheinbar existieren. Zu seinen Schülern gehörte auch der König des Landes, in dem Shankara lebte. Der wunderte sich manchmal über die selbstverständliche Gewissheit, mit der Shankara alle einzelnen Wesen und Dinge zu Illusionen erklärte, auch die Unterschiede, die dem König so wichtig waren, ohne die er sich sein Leben gar nicht vorstellen konnte: von reich und arm, zwischen mächtigem Herrscher und gehorsamem Untertan, worauf ja das Gefühl des Königs beruhte, eine besondere, herausragende Stellung unter den Menschen zu haben. Und weil er glaubte, in einer Welt ohne Unterschiede nicht leben zu können, glaubte er auch nicht, dass Shankara wirklich ernsthaft glaubte, dass die wahre Wirklichkeit elne unteilbare Ganzheit sei. Er beschloss, seinen Lehrer auf die Probe zu stellen: Als Shankara wie jeden Morgen einen Spaziergang durch den Palmenhain in der Nähe des Palastes unternahm, sorgte er dafür, dass ein wilder Elefant losgelassen wurde und - scheinbar außer Kontrolle geraten - auf den Philosophen zugestürmt kam. Als Shankara das merkte, kletterte er mit einer Behendigkeit und Geschwindigkeit, die man einem weltfremden Gelehrten gar nicht zugetraut hätte, auf die nächste Palme, wartete gelassen ab, bis der Elefant sich wieder beruhigt hatte und weiter trottete, stieg dann langsam von der Palme und setzte schließlich seinen Spaziergang fort, als ob nichts Wichtiges geschehen wäre.
Dem König war natürlich sofort berichtet worden, was geschehen war. Und als Shankara am Nachmittag so wie an jedem anderen Tag ihn im Palast aufsuchte, um ihn in den heiligen Schriften der alten Weisen zu unterrichten, begrüßte er ihn spöttisch lächelnd mit folgenden Worten: „Nun, mein hochverehrter Lehrer: wenn es doch nur das fugenlose Eine gibt, das keine Einzelwesen kennt, wenn dieser Elefant heute morgen doch gar nicht wirklich war, warum bist du denn dann vor dem unwirklichen Elefanten auf die Palme geflüchtet?“ Ohne auch nur im Geringsten durch diese Frage verunsichert zu sein, antwortete Skankara: „Du hast Recht, edler König: Der Elefant ist wirklich unwirklich - und deshalb unwichtig. Und da der Elefant unwirklich und unwichtig ist, ist auch unwirklich und unwichtig, dass ich auf die Palme geklettert bin, dass man dir davon erzählt hat, dass du mir jetzt diese Frage stellst und ich dir darauf jetzt antworte.“
Dieser Geschichte kann man ja eine doppelte Deutung geben, aus ihr zwei verschiedene Botschaften herauslesen, und in den Kommentaren zu ihr gibt es auch tatsächlich zwei ganz unterschiedliche Interpretationsrichtungen:
Die einen Kommentatoren sagen: Shankara hat mit seiner Antwort eindeutig Recht. Es gibt nur das Eine-Ohne-Ein-Zweites. Und wenn der König das mit seiner Frage in Frage stellt, dann zeigt er damit nur, dass er als Schüler noch nicht weit genug fortgeschritten ist, so dass der Meister in seiner Antwort ihn weiter belehren, seine verengte Sichtweise erweitern muss. Der König hat einfach noch nicht verstanden, dass alles, wirklich alles, nur das unteilbare Eine ist, dass alles einzelne, was getan wird und geschieht, auch alle einzelnen Wesen, nur verschiedene Erscheinungsformen dieses Einen zu einem bestimmten Zeitpunkt sind, ohne überdauernde Substanz und daher auch ohne bleibende Bedeutung. Es gibt nur das Eine-Ohne-Ein-Zweites. Die Wirklichkeit ist nicht-dualistisch. Hier endet der Weg.
Andere Kommentatoren weisen darauf hin, dass Shankara mit seiner Antwort und auch der König mit seiner Frage Recht haben.
Man kann die Realität als eine Einheit ohne Unterschiede sehen. Dann kann man auch in einer Gefahr ruhig und gelassen bleiben. Doch man kann in dieser Einheit ohne Unterschiede nicht handeln. In der Welt, in der wir handeln, gibt es den Unterschied, von einem Elefanten niedergetrampelt zu werden oder sich auf eine Palme zu retten. Man muss diesen Unterschied nicht wichtig nehmen. Ein Selbstmörder tut es nicht, ein Buddha vielleicht auch nicht. Doch wenn man ihn aus irgendwelchen Gründen wichtig nimmt, muss man entschlossen auf die Palme klettern.
Man kann einen Baumstamm von allen Seiten ansehen, finden, dass alle diese Seiten, die ja ohne trennende Grenzlinien ineinander übergehen, gleich schön und gleich bedeutend, gleich gültig sind, dass alle Seiten zu demselben, einen Baum gehören.
Aber wenn man den Baum fällen will, kann man, muss man nur auf einer Seite die Säge ansetzen.
Die ganze Wirklichkeit ist anscheinend durch eine einzige Sichtweise nicht zu erfassen, auch nicht durch die ja alles umfassende, alles vereinheitlichende nicht-dualistische. Man muss zwei verschiedene Perspektiven sich ergänzend zusammenfügen: die nicht-dualistische Wahrheit der „Einheit-Ohne-Ein-Zweites“, die man als die wahre Wirklichkeit erkennen kann, und die dualistische Welt der Verschiedenheit, die uns zum Handeln einlädt und auffordert, zum Unter-Scheiden, Urteilen und Ent-Scheiden.
Es ist teilweise möglich, diese beiden Wirklichkeiten ineinanderzuschieben, sie in einer Wirklichkeit zusammenfallen zu lassen. Das wird in einigen Gedichten ja aufgezeigt. Doch das geht nicht immer. Man muss beide Perspektiven nebeneinander im Bewusstsein halten, zwischen ihnen hin und her wechseln, sie trennen und verbinden. Shankara konnte das. Deshalb ist er auf die unwirklich wirkliche Palme geklettert.
Viele spirituelle Traditionen, u. A. der Zen-Buddhismus, betonen, dass man bei der nicht-dualistischen Sichtweise nicht stehen bleiben soll, nicht in ihr stecken bleiben darf.
Die folgenden Gedichte weisen deshalb über die nicht-dualistische Erfahrung hinaus. Sie sind nicht-dualistisch dualistisch.
Die „Weg-Gedichte“ gehen selber einen Weg:
von dualistischen persönlichen Gedichten am Anfang
über paradoxe nicht-dualistische, über-persönliche Gedichte
zu den paradoxen nicht-paradoxen, nicht-dualistisch dualistischen, über-persönlich persönlichen Gedichten am Schluss.
Zuerst ist der Berg ein Berg.
Dann ist der Berg kein Berg, Nicht-Berg.
Zuletzt ist der Berg kein Berg und Berg.
Publiziert am: Samstag, 16. Januar 2016 (1345 mal gelesen)
Copyright © by Rudolfo Kithera
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