Das, was hier ist
Das, was hier ist,
das, was jetzt ist,
das ist überall und immer.
Was nicht hier ist,
was nicht jetzt ist,
das ist nirgendwo und nimmer.
Herbstgewitter über Dächern,
Schneegestöber voller Zorn,
Frühjahrssturm im Laub vom Vorjahr,
Sommerwind in reifem Korn -
hätt' ich all das nie gesehen,
wär' für alles and're blind,
nur den Wind in deinen Haaren,
sagt' ich doch: "Ich kenn' den Wind."
Straßenlärm und Musikboxen
weh'n ein Lied irgendwo her;
Düsengrollen, Lachen, Rufen,
plötzlich Stille ringsumher -
hätt' ich all das nie vernommen,
wär' für alles taub und hört'
nur ein Wort von dir gesprochen,
sagt' ich doch: "Ich hab' gehört."
Bunte Bänder und Girlanden,
Sonne nach durchzechter Nacht,
Neonlicht im Morgennebel
kurz bevor die Stadt erwacht -
wär' mir das versagt geblieben,
hätte ich nur dich geseh'n,
schließ' ich über dir die Augen,
sagt' ich doch: "Ich hab' geseh'n."
Warten, hoffen und aufgeben,
irren und Ratlosigkeit,
zweifeln, glauben und verzeihen,
Freudentränen, Trunkenheit -
hätt' ich all das nie erfahren,
hätt' ich all das nie erlebt,
schlief' ich ein in deinen Armen,
sagt' ich doch: "Ich hab' gelebt."
(Reinhard Mey, Herbstgewitter über Dächern)
Publiziert am: Montag, 05. Dezember 2016 (1033 mal gelesen)
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