Dawna Markowa - Nahtoderfahrungen

 

 

"Eines der Erlebnisse, die am meisten zu meiner Transformation beigetragen haben, bestand darin, viereinhalb Minuten lang tot auf einem Operationstisch zu liegen. Ich weiß, viereinhalb Minuten machen mich nicht zur Expertin. Aber diese Erfahrung half mir, meinen Weg an manchen Stellen, wo er ungute Krümmungen machte, zu begradigen; und sie führte mich weit fort von meinem ursprünglichen Standort. In der Familie, aus der ich stamme, wurde “dieses Wort” (Tod) nie erwähnt.

Bevor ich 25 wurde, war ich nie auf einer Beerdigung gewesen. Man starb nicht; man ließ sich nur nirgendwo mehr sehen. Der Tod war der Gipfel des Versagertums.

Meine kleine Viereinhalb-Minuten-Erfahrung unterschied sich so sehr da­von. Es fällt mir immer noch schwer, sie in Worte zu fassen - ich habe die Form nicht gefunden, in die ich die Intensität der Verzückung zu fassen vermöchte, die ich erlebt habe. Ich habe versucht, die sich ständig verändernden Lichtmu­ster zu beschreiben, die mich umtanzten, aber meine Zunge stolpert am Ende über Wolken. Es war, als sei meine Seele ergriffen und über das ganze Universum verteilt, oder vielmehr, als seien das Universum und meine Seele so miteinander verwoben, daß es unmöglich war, zu sagen, wo das eine begann und die andere endete. Ich wurde zu einem Zyklon intensiver Wachheit. In dem größten Schulraum, den man sich vorstellen kann, lernte ich eine Geometrie des Lebens, in der alles einen Sinn ergab. Eine unendliche Zahl von getrennten, unzusammenhängenden Fasern verspann sich zu einem einzigen dicken Faden.

Ich schaute aus einer Höhe von tausend Meilen herab und sah meinen armen in grünes Tuch gehüllten Körper auf dem metallenen Operationstisch liegen; der Arzt spritzte Adrenalin, die Schwester huschte wie verrückt über den Linoleumboden. Zur gleichen Zeit erhob sich eine Stimme um mich herum und in mir, die fragte: “Hast du genug Freude erlebt?” In diesem Moment wurde mir klar, dass ich von all den Millionen Augenblicken meines Lebens nur sehr wenige wirklich erlebt hatte. Die meisten von ihnen hatte ich verpasst, indem ich wie verrückt in Richtung Zukunft raste und vor der Vergangenheit davonlief. Diese Erkenntnis traf mich wie ein Schock, so, als wäre ich ein Vogel, der gegen eine große Glastür fliegt.

Es folgte eine zweite Frage: "Was hast du noch nicht gesehen?” Dann hörte ich eine Art Rascheln, ein sanftes Brausen um mich herum, ein Ziehen, Zerren, Abwärts-Schweben, das mich in den Operationssaal zurückbrachte, zurück in meinen Körper.

Solch ein kurzer, intimer und letztlich zeitloser Moment, doch nichts war seither wie zuvor. Ich erlebte eine gefühlsmäßige und spirituelle Verschiebung zu einer Art des Denkens, bei der es nicht mehr so wichtig für mich war, “etwas zu werden” - reich zu werden, geliebt zu werden, vorwärts zu kommen, anerkannt zu werden. Durch das dauernde “Werden” verpasste ich zu viel.

Diese viereinhalb Minuten formten mich, so, wie ein Fluss die Wände eines Canyons formt. Der innere Kompass hat sich statt am Werden und Bekommen am Geben ausgerichtet - einem Geben, bei dem ich mich nicht weggebe. Zu lernen, so viel Freude wie möglich zu empfinden, ist zu meinem magnetischen Nordpol geworden; darauf zu bestehen, ein Leben zu erschaffen, das so lebendig und von Freude erfüllt ist, dass ich es nicht verlassen möchte."

(Dawna Markova, Die Versöhnung mit dem inneren Feind, S.16)

Publiziert am: Sonntag, 05. Januar 2025 (23 mal gelesen)
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