Rumi - Der Weise auf dem Steckenpferd

 

 

Lass’ die Vernünftigkeit der Menschen los!

Sie ist die Klugheit des Vergleichens und Bewertens,

lehrt dich das Kämpfen und Besiegen,

rät zum Gewinnen und Behalten.

Find' die Vernunft, die bei den Engeln gilt!




Der Weise auf dem Steckenpferd

 

Ein Händler, der wegen lohnender Geschäfte in eine fremde Stadt gereist ist, fragte den Handelspartner, in dessen Haus er für die Nacht untergekommen ist: „Gibt es in dieser Stadt einen Mann, der für seine Vernünftigkeit, Weitsicht und Weisheit bekannt ist? Ich stehe vor einer wichtigen Entscheidung und suche jemanden, der mir dazu einen guten Rat geben kann."

Der Gastfreund antwortete: „In dieser Stadt gibt es keinen vernünftigen Mann. Der einzige Vernünftige ist einer, der verrückt zu sein scheint. Er reitet mit den Kindern auf einem Steckenpferd herum. Du findest ihn draußen vor den Toren auf den Feldern.“

Der Händler ging also auf die Felder hinaus, und bald sah er auch schon den Gesuchten, der tatsächlich inmitten einer Schar johlender Kinder auf seinem schlichten Holzpferd ritt. Als er sich auf Hörweite genähert hatte, sprach er ihn mit den Worten an:

„Ehrwürdiger Vater, der ein Kind geworden ist: Erlaube mir, dir eine wichtige Frage zu stellen! Denn ich vertraue darauf, dass du mir eine weise Antwort geben kannst.“

Der Reiter auf dem Steckenpferd antwortete: „Klopfe nicht an meine Tür, denn sie ist verschlossen. Heute ist nicht der Tag, um Geheimnisse zu offenbaren.“ Er wendete sein Holzpferd, um mit den Kindern in eine andere Richtung davon zu reiten.

Der Händler, der sich nicht so schnell abwimmeln lassen wollte, rief ihm hinterher: „Du, der auf dem Steckenpferd reitet, wende dein Pferd doch noch einmal in meine Richtung!“

Der Reiter folgte seiner Bitte und sagte: „Höre, sag kurz und bündig, was du wissen willst! Mein Pferd ist ungestüm und wild. Beeil dich, sonst tritt es dich!“

Der Fremde sagte: „Ich möchte eine Frau aus dieser Stadt heiraten. Welche würde zu einem Mann wie mir passen?“

Der Reiter auf dem Steckenpferd antwortete: „Es gibt drei Arten von Frauen auf der Welt. Wenn du die erste heiratest, ist sie vollständig dein. Die Zweite ist halb dein und halb getrennt von dir. Und die Dritte, die ist überhaupt nicht dein. So, jetzt hast du meine Antwort gehört. Tritt zur Seite, denn sonst tritt dich mein Pferd, dass du stürzt und nie wieder aufstehst!“ Und er wendete sein Pferd und ritt mit den Kindern davon.

Der Händler rief ihm nach: „Bitte erkläre mir, was du mit deiner Antwort meinst. Du hast gesagt, dass es drei Arten von Frauen gibt. Welche denn?“

Der Reiter antwortete aus der Ferne: „ Das Herz der Frau, die vor der Ehe mit dir noch nicht verheiratet war, wird völlig dir gehören. Die, die halb dein ist, ist die Witwe. Und die, deren Herz gar nicht dir gehört, ist die geschiedene Frau mit einem Kind; sie wird ihre ganze Liebe auf dieses Kind richten. Und jetzt lass mich in Ruhe! Die Kinder sind schon ungeduldig.“

Der Fremde aber sagte: „Warte noch einen Augenblick! Ich habe noch eine zweite Frage, die mir auf der Seele brennt. Sei so gnädig mir gegenüber, mir darauf eine Antwort zu erteilen!“

Der Weise auf dem Holzpferd ritt wieder ein Stück auf ihn zu und sagte: „Gut, da du mich mit höflicher Bescheidenheit darum bittest, will ich dir die Antwort nicht verweigern. Doch beeile dich! Die ungeduldigen Kinder haben schon meinen Poloball vom Boden aufgehoben und sind schon mit ihm weggelaufen. Ich muss schnell hinter ihnen her eilen.“

Der Fremde fragte: „Wie ist es möglich, dass du wie ein Hort der Weisheit sprichst und wie ein Wahnsinniger handelst? Warum versteckst du dich hinter dieser Verrücktheit?“

Darauf antwortete wiederum der Mann auf dem Holzpferd: „Meine Mitbürger wollten mich zum Richter in dieser Stadt machen. Ich erhob Einspruch. Denn ich bin ein Gottsucher, und die irdische Vernunft und das scharfsinnige Urteil über die Welt und die Menschen sind ein Hindernis auf dem Weg zu der göttlichen Weisheit, die der menschlichen Vernunft oft widerspricht. Doch sie bestanden weiter darauf und sagten: „Es gibt niemanden in dieser Stadt, der so gelehrt und weise ist wie du. Solange du da bist, wäre es ein Unrecht, wäre es verboten, wenn ein dir Unterlegener bei uns Recht sprechen würde. Da blieb mir keine andere Wahl als so zu tun, als sei ich verrückt.“

Der Weise wendete sein Pferd und ritt ohne ein weiteres Wort davon, dem Ball und den Kindern hinterher.

 



 

Wer unter Menschen etwas erreichen will,

muss richtig und gerecht urteilen.

Wer Gott erreichen will, muss aufhören, zu urteilen.

Denn Gott ist kein Richter, der urteilt und verurteilt.

Seine Gerechtigkeit ist Barmherzigkeit.

Er lässt seine Sonne scheinen über Gerechte wie Ungerechte.


 

 

PS:

Rumi, der diese Geschichte aus dem Matnawi geschrieben hat,

war anscheinend in der Lage, zu urteilen und nicht zu urteilen.

Er war Richter im Dienst des Seldschuken-Sultans von Konya.

Er hat in der Welt etwas erreicht und war in der Lage, Gott zu erreichen.


 

 

 

Publiziert am: Montag, 09. Dezember 2024 (0 mal gelesen)
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