Beim Zen-Meister

 

 

Richard Fuller, Professor für vergleichende Sprachwissenschaften an der alt-ehrwürdigen Universität Oxford, hat gerade den Zen-Buddhismus für sich entdeckt - als Neuestes.

Er hatte in den vergangenen Jahren sich schon für so manches Andere interessiert - immer nur für eine gewisse Zeit.

Er hatte Lehren, Theorien, Philosophien gesammelt:

die abendländische Anthroposophie, das indische vedische System, den chinesischen Taoismus.

Nun will er diese Sammlung mit dem japanischen Zen-Buddhismus bereichern - abschließend, wie er glaubt.

Doch er weiß: Das hab' ich schon öfter geglaubt.

 

Von einem Kollegen, der fernöstliche Kunst lehrt, hat er erfahren, dass ganz in der Nähe, in einem kleinen Dorf, ein Zen-Meister wohnt.

Um sich aus erster Hand zu informieren, ruft er ihn an und bittet um ein Gespräch.

Das wird ihm auch sofort gewährt.

Er fährt also zum Haus des Meisters, der von seinen Schülern als Kara Sensei angesprochen wird.

Im Auto erinnert er sich an das, was er inzwischen von dem Zen-Meister weiß.

Er hat sich natürlich über ihn erkundigt.

Der inzwischen hochbetagte Kara Sensei kennt Zen bereits seit seinen Kindertagen.

Schon sein Onkel war ein Zen-Meister gewesen.

Und er hat nie etwas Anderes praktiziert als Zen - über 60 Jahre lang.

 

Der Sensei begrüßt ihn an der Tür - mit einer Verbeugung - und führt ihn zum zentralen Hauptraum des Hauses.

Schon als sie sich ihm nähern, hat der Professor einen breiten, ungehinderten Blick hinein.

Er hat sich inzwischen etwas mit ostasiatischer Wohnkultur beschäftigt und weiß daher:

Das "Wohnzimmer" eines traditionellen japanischen Hauses ist nicht wie in Europa durch feste Wände nach außen abgetrennt, sondern auf allen Seiten fast durchgängig von Sojis, verschiebbaren Türen und Fenstern,

die zwischen den schmalen, leichten Holzgittern mit Papier bespannt sind, das angenehm gedämpft das Licht durchscheinen lässt.

Und der Hausherr hat in der Richtung zur Eingangstür die Shojis weit zurückgeschoben.

Richard Fuller sieht, dass der Boden des Raums ganz mit Tatamis, dünnen Reisstrohmatten, ausgelegt ist.

 

Vor dem Hauptraum fängt eine junge Frau den Sensei ab und sagt ihm etwas auf Japanisch.

Der Professor versteht natürlich nicht, was sie sagt, doch die Schnelligkeit ihres Sprechens verrät, dass es etwas Dringendes sein muss, was keinen Aufschub duldet.

"Es gibt wohl auch im gelassenen, in sich ruhenden Leben eines Zen-Meisters etwas, was sofortiges Handeln erfordert", denkt Richard Fuller.

Kara Sensei entschuldigt sich bei dem Gast für die Störung, bittet ihn, kurz auf ihn zu warten und verschwindet mit der jungen Frau -

wahrscheinlich eine fortgeschrittene Schülerin, die sich um die häuslichen Belange des Meisters kümmert - in einem Nebenraum.

"Anscheinend gibt er jetzt ein paar Anweisungen, wie die unerwartet aufgetretene Schwierigkeit behoben werden kann", vermutet der Professor.
 

Die erzwungene Unterbrechung gibt ihm Gelegenheit, sich ein ausgiebiges Bild von dem Raum zu machen, der vor ihm liegt:  

Er ist fast leer: keine Schränke an den beweglichen, ja gar nicht dauerhaften Wänden, keine Kommoden, keine Sofas, auch keine Stühle.

Der Professor merkt sofort, wie stark sich dieser Raum von seinem eigenen Wohnzimmer unterscheidet - voll mit vielen Mitbringseln von vielen Reisen, voll mit Regalen, die voll mit Büchern sind,

Hier, in diesem Raum, steht in der Mitte nur ein niedriges Tischchen,

davor an einer Seite ein kleiner Schemel, nach vorne leicht abgeschrägt.

"Der ist wohl für mich", denkt sich  der Professor. "Der Meister ist ja wirklich umsichtig. Er hat daran gedacht, dass ein Europäer wohl nicht an den Seizan, den Fersensitz, gewöhnt ist."

Das den Raum beherrschende einzige Möbelstück erinnert den Professor an die Spieltischchen, die beim Go verwendet werden.

Er hatte vor ein paar Jahren auch mal Go für sich entdeckt. 

Dieses wohl schwierigste Spiel der Welt hatte er ein paar Monate gespielt, doch dann wieder aufgegeben.

Es war ihm zu offen, zu wenig erfassbar, nach klaren Regeln spielbar gewesen.

An den Wänden sieht der Professor auch keinen Wandschmuck.

"Kein Wunder", leuchtet ihm sofort ein. "Die beweglichen Wände laden ja auch nicht gerade dazu ein, sie dauerhaft mit festen Bildern zu behängen".

Nur in der kleinen Nische, die von den Shojis ausgespart wird, (Robert Fuller weiß inzwischen: Die heißt Tokonoma),

hängt ungerahmt die Tuschezeichnung eines Hasen, in schlichter Kargheit mit ein paar Strichen und Tupfern nur angedeutet,

nicht klar und fest von der Umgebung abgegrenzt, sondern durchlässig auf die Leere hin,

die ja als gemeinsamer Grund Inneres und Äußeres verbindet, beides gleichermaßen durchdringend.

Er erinnert sich daran, dass er einmal, bei einem Symposium in Wien, in der Albertina den berühmten Hasen von Albrecht Dürer gesehen hat:

das Fell genau, detailgetreu ausgemalt, mit vielen Farbnuancen;

ein vollkommener Gegensatz zu diesem so kindlich schlichten, zugleich so meisterlich gezeichneten Tuschehasen - genauso vollkommen, jedoch vollkommen anders.

 

 

Der Meister ist auch tatsächlich schon nach kurzer Zeit zurück, entschuldigt sich noch einmal,

zieht vor den Matten seine Schuhe aus, verbeugt sich, betritt erst dann barfuss den Raum.

Professor Fuller weiß: Das ist so üblich in Japan - und folgt seinem Beispiel.

Der Sensei wartet, bis der Gast auf dem Schemel Platz genommen hat, setzt sich dann an die gegenüber liegende Seite des Tischchens.

Als sie beide sitzen, verbeugt er sich wieder.

Richard Fuller sieht, dass Meister Kara wohl ein  gemeinsames Teetrinken vorbereitet hat.

Zwei schön bemalte Porzellan-Tassen, mit dünnem Rand, stehen auf dem Tischchen.

Die junge Frau, die der Professor ja schon kurz gesehen hat, kommt schweigend in den Raum, zieht vor den Matten die Schuhe aus, betritt barfuß die Matten und stellt eine bauchige Teekanne auf das Tischchen.

Sie verbeugt sich vor Gast und Meister, verlässt wortlos wieder Matten und Raum.

 

Der Sensei ergreift den Henkel des Kännchens und schenkt dem Gast Tee ein.

Er hört damit nicht auf, als die Tasse voll ist.

Er gießt weiter, immer weiter, bis immer mehr Tee über den dünnen Rand der Tasse fließt.

Der Professor sieht es, sagt jedoch nichts - das verlangt die Höflichkeit, die Etikette.

Doch schließlich kann er sich nicht zurückhalten:

"Nun hören Sie doch auf! Die Tasse ist doch voll."

 

Der  Angesprochene sagt ruhig:

"So wie diese Tasse übervoll mit Tee ist, ist ihr Kopf voll mit über-flüssigem Wissen.

Ich kann den Tee des Zen nicht in schon volle Tassen gießen.

Ich kann Sie erst Zen lehren, wenn Ihr Kopf leer ist.

Um Zen zu lernen, müssen Sie ihn erst leer machen.

Und dabei kann ich Ihnen helfen -

wenn Sie das wirklich wollen, ernsthaft wollen.

Sie sind ein Lehrer, ich bin ein Meister.

Ein Lehrer hilft den Schülern, ihren Kopf zu füllen, immer mehr Wissen zu behalten.

Ein Meister hilft den Schülern, ihren Kopf zu leeren, immer mehr unnötigen Ballast zu vergessen."



Kommentar:

 

Angeregt zu diesen Zeilen hat mich die Zen-Geschichte "Eine Tasse Tee" aus "Ohne Worte - ohne Schweigen" von Paul Reps.

 

Ich weiß nicht, ob ein Besuch bei einem Zen-Meister wirklich so ablaufen könnte.

Ich habe ihn mir so vorgestellt, auf der Grundlage meiner geringen Kenntnis japanischer Umgangsformen.

Einige Jahre hab' ich ja Aikido praktiziert, eine gewaltlose Kampfkunst, bin deshalb mit Matten, Verbeugungen, dem Fersensitz etwas vertraut.

Wirkliche Japan-Kenner und japanische Leser mögen mir verzeihen, wenn ich etwas geschrieben habe,

was so, in dieser Form, nicht üblich ist.

 

 

 

 

 

 

Publiziert am: Montag, 02. Dezember 2024 (25 mal gelesen)
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