Gegenwart und Warten

 

 

 

Die Gegenwart, die ist kein Warten.

Was gegenwärtig lebt, das wartet nicht.

Was wartet, lebt nicht in der Gegenwart.

 

 

Was fliegt und fließt,

was weht und wogt,

das wartet nicht,

er-wartet nichts,

das wartet auf mich nicht,

er-wartet von mir nichts;

 

 

Nicht Wind und Welle, Berg und Tal,

nicht Rose, Tulpe, Nelke,

nicht Ratte, Rabe, Robbe,

sind wartend und er-wartend.

Sie leben in der Gegenwart,

sind Gegenwart - nichts sonst.

 

 

Nur Menschen warten.

Nur Menschen können warten.

Sie warten auch auf mich.

Doch wenn sie auf mich warten,

von mir etwas er-warten,

verlassen sie die Gegenwart,

verlieren sie die Gegenwart,

sind nicht mehr reine Gegenwart,

solang’ sie auf mich warten,

von mir etwas er-warten.

 

 

Doch ich, ich warte nicht auf sie,

auch nicht auf einen anderen Wind,

auf Robben anstatt Ratten.

Ich warte nicht, er-warte nichts,

ich wart’ auf nichts und keinen.

Denn in der Gegenwart leb’ ich

und reine Gegenwart bin ich

nur dann, wenn ich nicht warte.

 

 

 

 

 

Kommentar:

 

 

Diese Worte, sie klingen ja recht schön.
Doch sie sind zu schön, um wahr zu sein.
Sie stimmen nicht ganz:

 

 

Nicht nur wir Menschen können warten, etwas er-warten.
Natürlich warten Berge und Flüsse nicht,
er-warten Rosen, Tulpen, Nelken nichts.
Sie haben ja kein Bewusstsein,
und ohne Bewusstsein kann etwas nicht warten, nichts er-warten.

 

 

Doch Tiere können durchaus warten - so wie wir.
Sie haben ja Bewusstsein - so wie wir.
Ein Löwe, der auf seine Beute lauert, wartet,
und auch ein Hund kann auf die Rückkehr seines Frauchens warten.

 

 

Doch warten sie denn wirklich so wie wir?
Warten sie nicht anders?
Sie warten, doch sie denken nicht: „Ich warte.“
Sie haben zwar Bewusstsein, doch kein Selbst-Bewusstsein.
Sie sind das Warten, nur das Warten,
sind mit dem Warten eins.
Ihr Warten ist Nicht-Warten.
Durch Warten fallen sie nicht aus der Gegenwart.
Sie bleiben auch im Warten in der Gegenwart.

 

 

Auch wir können so warten,
dass wir das Warten sind - nichts sonst.
Dann ist auch unser Warten ein Nicht-Warten;
auch wir verlieren dann im Warten nicht die Gegenwart,

verbleiben auch im Warten in der Gegenwart.

 

 

 

Publiziert am: Mittwoch, 19. Juli 2023 (93 mal gelesen)
Copyright © by Rudolfo Kithera

Druckbare Version

[ Zurück ]

Impressum Datenschutz Kontakt

Alle Logos und Warenzeichen auf dieser Seite sind Eigentum der jeweiligen Besitzer und Lizenzhalter. Im übrigen gilt Haftungsausschluss.