Auch du

 


 

Auch du, du unverschämter Flegel,

auf blaue Augen stolz und blondes Haar,

der du mit Stiefeln, stahlbeschlagen,

dich überheblich überlegen fühlend

laut dröhnend kraftvoll auf den Boden stampfst

und heftig gegen alles Schwächere trittst,

was du verachtest als nicht lebenswert;


 

auch du wirst sicher irgendwann einmal -

vielleicht nach vielen, vielen weiteren Leben -

von harten Schicksalsschlägen weich geklopft,

das Rohe gar gekocht durch Misserfolg und Scheitern,

der letztlich sinnlosen Triumphe überdrüssig,

enttäuscht erschöpft in schmerzvollem Bemüh'n,

in einem Meer aus Tränen, Schweiß und Blut geläutert,

für uns ein teurer Freund und lieber Bruder sein,

der nicht mehr Schutz sucht hinter dicken Mauern,

vertrauend scharfen Waffen und dem dichten Panzer,

der, sich nicht sichernd, sich nicht sicher ist,

der offen ist, verwundbar und verletzlich,

der sich berühren und bewegen lässt

von Mit-Gefühl, von Mit-Leid und Mit-Freude,

bereit, zu teilen sich mit Anderen, rückhaltlos,

nicht nur das Schwere trauernd-tröstend mit zu tragen,

auch mit zu spielen, mit zu feiern, mit zu tanzen.


 

Auch du wirst eines Tages alles Leben achten,

auch das, was schwach, was krank, was nicht erfolgreich,

was nicht begabt und nicht begnadet ist.

Auch du wirst einmal eine weiße Wolke sein,

ein sanftes Fließen ohne wilden Kampf,

ein stilles Strömen ohne Widerstand,

gewaltlos glücklich und fried-selig froh.

Auch du wirst eine weiße Wolke sein -

wie schließlich jeder, wie auch schließlich ich.

 

 


 

 

Kommentar:

 

 

"Gott arbeitet an der äußeren und inneren Vollendung des Werks, das du darstellst. Er ist unablässig mit dir beschäftigt.

Jeder Mensch ist eine in Ausführung befindliche Arbeit, die sich langsam, aber unaufhaltsam ihrer Vollkommenheit nähert.
 

Jeder von uns ist ein unvollendetes Kunstwerk, das darauf wartet und danach strebt, vollendet zu werden.

Gott widmet sich jedem Einzelnen von uns, denn das Menschsein ist wie die höchste Schreibkunst,

und jeder einzelne Punkt ist gleichermaßen wichtig für das Gesamtbild."
 

(Elif Shafak, Die vierzig Geheimnisse der Liebe")

 



 

Jeder - auch Hitler, Himmler, Heydrich - wird irgendwann mit-wirken am Werk, dem heilsamen Wirken Gottes.

Auch Hitler, Himmler und Heydrich werden dann unser Bruder sein.

Sie brauchen vielleicht nur ein Bisschen mehr Zeit, um es zu werden.

Es dauert vielleicht nur etwas länger, bis sie es sind - vielleicht nur eine Million Jahre.

Im Verhältnis zur Unendlichkeit der Ewigkeit ist jede auch noch so große Zeitspanne unendlich klein, unendlich unbedeutend.


 

Und auch sie bekommen dann denselben unendlichen Lohn - wie wir, wie alle.

Auch Himmler kommt schließlich in den Himmel - darauf deutet ja schon sein Name -

als alles liebender Sohn des alles liebenden Vaters.



 

Es stellt sich ja die Frage, wie Gott sowohl gerecht als auch alles vergebend sein kann.

Und die einzige Antwort, die diese Paradoxie auflöst, ist:

Gott ist gerecht in der Zeit, bis zum Ende der Zeit, und allbarmherzig in der Nicht-Zeit, der Ewigkeit.

Jeder muss den Weg der leidvollen Läuterung geh'n, den er sich durch seine Gesinnung und seine Taten selbst gebahnt hat.

Und je weiter sich ein Sohn Gottes vom Vater entfernt hat,

desto länger ist eben der Weg zurück.

Doch das Ziel des Weges ist vorbestimmt,

jeder wird es sicher erreichen.

(Das ist Gottes All-Barmherzigkeit schon in der Zeit.)

Jeder verlorene Sohn läuft auf die offenen Arme des Vaters zu.

 


 

In jedem ist der Christus schon geboren,

auch im Verbrecher, Mörder, Folterknecht.

Und jeder ist bereits zu Gottes Reich erkoren,

wird einst sein Erbe sein nach des Allmächtigen Recht.

 

 

 

 

Publiziert am: Donnerstag, 22. Dezember 2022 (197 mal gelesen)
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