Gehen, ohne zu gehen - vertiefende Texte
Führe das, was jetzt da ist, weiter und dehne es aus
(ohne es ändern zu wollen)!
Handel so, dass das Handeln aus sich selbst heraus in Bewegung kommt, sich selbstverständlich aus sich selbst ergibt, wie ein See, der wieder ins Fließen kommt, wieder zum Fluss wird, ohne irgendwo hin zu wollen, ohne Absicht, ohne Ziel!
Es gibt am Bodensee - oder schon wieder am Rhein? - einen solchen Ort: die Insel Werd mit einer schlichten kleinen, dem heiligen Othmar geweihten Kapelle. Der Bodensee, der hier wieder zum Rhein wird, weiß noch nichts von Straßburg, Köln und Rotterdam. Er weiß noch nicht, wie breit er bei Emmerich sein wird, er weiß noch nicht, dass er sich in vielen Armen ins Meer ergießen, in die Nordsee münden wird. Der Bodensee spürt nur, dass er aus innerer Notwendigkeit heraus, jetzt, wieder zum Fluss werden will. Er verwandelt sich nur, nimmt nur eine andere Form an, die nächste, ohne sich um die übernächste und über-übernächste Form zu kümmern. Und das Motiv, aus dem heraus er wieder zum Fluss werden will, ist nicht, dass er sich als See unwohl oder unzufrieden fühlt, dass ihm etwas fehlt oder dass ihn etwas stört, dass er seinen derzeitigen Zustand als Mangel oder mit Mängeln belastet erlebt. Er will nicht endlich aufhören, ein See zu sein, diesen Zustand des In-Sich-Selber-Ruhens, den er als Stagnation, In-Sich-Gefangen-Sein erlebt, möglichst schnell hinter sich zurück lassen. Er sehnt sich nicht danach, endlich wieder in Bewegung zu sein. Nein, er ist vollkommen im Einklang damit, See zu sein, zufrieden, im Frieden mit dem, wie er ist; er liebt sich so, wie er ist. Er ist Erfahrung, die sich selber liebt. Er muss sich nicht ändern. Er spürt nur, dass er sich in eine andere Form verwandeln will, sich in einer anderen Form weiterführen will, die nicht besser ist als die gegenwärtige, nur anders. Vielleicht ist es Neugier, Verwandlungslust, Freude daran, sich in einer neuen Form zu erschaffen. Vielleicht ist es der Wunsch, eine neue, weitere Form des Seins, eine bisher unbekannte Möglichkeit der Erfahrung auszuprobieren, spielerisch zu erproben, sich dadurch zu erweitern und auszudehnen.
Als abstrakte Regel formuliert bedeutet das Folgendes:
Geh' davon aus, dass da, wo du schon bist, in dem Zustand, in dem du schon bist, genug Lebensqualität schon vorhanden ist. Führe durch dein Handeln diese Lebensqualität nur weiter und dehne sie aus !
+ führt zu ++
Geh' nicht davon aus, dass du etwas verändern musst. Dann glaubst du, dass da, wo du jetzt bist, in dem Zustand, in dem du dich gerade befindest, nicht genug Lebensqualität schon da ist, dass du erst etwas tun, etwas ändern musst, damit genügend Lebensqualität entsteht.
- führt zu +
Du versuchst etwas, was unmöglich ist. Denn zwischen – und + liegt die 0 und bildet den Graben des Nicht-Seins, der unüberwindlich ist.
Was ist aber, wenn der Bodensee doch etwas von Straßburg, Köln und Rotterdam weiß? Wenn er den Wunsch hat, auf diese großen Städte voller Leben zu zu fließen? Wenn er so breit werden will, dass er sich in viele Arme aufteilen kann, so vervielfacht in das große Meer münden kann?
Wenn es doch ein Ziel gibt, auf das ich mich durch mein Handeln zu bewegen will. Dann ist folgende Regel wesentlich:
Lass die Absicht beim Tun los! Lass das Ziel auf dem Weg los!
Das Prinzip, ein Ziel nur zu wählen, um sich eine Richtung zu geben, sobald man diese Orientierung gefunden (oder erfunden?) hat, das Ziel jedoch loszulassen und dann nur noch auf den Weg zu achten, kommt in folgender Geschichte zum Ausdruck:
Salami Schneiden
„Stell' dir vor, du gibst abends bei dir zu Hause eine Party und willst deinen Gästen ein kleines kaltes Bufett mit verschiedenen Wurstsorten zur Verfügung stellen, die du selbst in Scheiben schneiden willst! Dabei ist es wichtig, klar zwischen einer Planungs- und einer Ausführungsphase zu unterscheiden. Die Planungsphase besteht daraus, dass du überlegst, wie viele Leute wohl tatsächlich kommen und wie viel die wohl essen werden. Du kommst dann zu dem Ergebnis, dass du eine Salami, einen Schinken und eine Blockwurst brauchst. Dann fragst du dich noch, was wohl von den drei Wurstsorten am meisten und am liebsten gegessen wird. Da du glaubst, dass das die Salami ist, entscheidest du dich, mit dem Schneiden der Salami anzufangen. Du gehst an den Speiseschrank, nimmst eine Salami, einen Schinken und eine Blockwurst heraus, legst den Schinken und die Blockwurst etwas abseits und die Salami auf das Schneidebrett.
Damit ist die Vorbereitungsphase abgeschlossen. Du hast dir eine klare Vorstellung davon geschaffen, was du tun willst, und du hast die Prioritäten festgelegt, wodurch du deinem Handeln eine sinnvolle Reihenfolge gegeben hast. Nun ist es wichtig, klar auf die Ausführungsphase umzuschalten, die ganz anderen Prinzipien folgt, ohne auf die Abläufe während der Planungsphase zurückzufallen. Wenn du jetzt tatsächlich die Salami schneidest, ist es wichtig, dabei nicht wieder, nicht mehr an den Schinken und an die Blockwurst zu denken. Es ist wichtig, jetzt ausschließlich - alles andere ausschließend, weil es nicht die gegenwärtige Erfahrung ist - deine Aufmerksamkeit auf das Schneiden der Salami zu richten, und zwar genau auf die Scheibe, die du gerade jetzt, in diesem Augenblick schneidest. In deinem tat-sächlichen Handeln hast du mit nichts anderem zu tun, weil du nichts anderes tust.
Die folgenden Abschnitte sind ein Auszug aus einem "Klassiker": das "Wunder der Achtsamkeit" des vietnamesischen Zen-Meisters Thich Nhat Hanh:
Abwaschen, um abzuwaschen
Als junger Novize lebte ich vor einigen Jahrzehnten in der Tu-Hieu-Pagode. Das Abwaschen war damals eine wenig angenehme Aufgabe. In der Zeit der Exerzitien, wenn alle Mönche wieder im Kloster versammelt waren, mussten zwei Novizen für zeitweise mehr als hundert Mönche kochen und abwaschen. So etwas wie Spülmittel kannten wir nicht! Wir hatten nur Asche, Reisspelze und Schalen von Kokosnüssen. Das war alles. Eine schwere Aufgabe, so einen Riesenstapel von Schüsseln zu säubern, besonders im Winter, wenn das Wasser eiskalt war! Zunächst hieß es, einen großen Topf Wasser heiß zu machen, bevor wir mit dem Putzen und Schrubben anfangen konnten. Heute gibt es in den modernen Küchen flüssige Seife, spezielle Spülbürsten und selbstverständlich fließend heißes Wasser, was die Arbeit natürlich sehr viel angenehmer macht. Da fällt es nicht mehr schwer, mit Freude abzuwaschen. Ohne große Vorbereitungen kann man das Geschirr abwaschen und sich danach gemütlich hinsetzen, um in Ruhe eine Tasse Tee zu genießen. Nun halte ich die Anschaffung einer Waschmaschine für die Wäsche ja durchaus für sinnvoll (obwohl ich selbst meine Kleidung von Hand wasche), aber eine Geschirrspülmaschine finde ich dann doch übertrieben.
Wenn man abwäscht, sollte man nur abwaschen, das heißt, man sollte sich während des Abwaschens dessen ganz bewusst sein, dass man abwäscht. Das kommt einem auf den ersten Blick vielleicht etwas albern vor. Warum einer so banalen Sache wie Abwaschen derart viel Aufmerksamkeit widmen? Doch das ist der springende Punkt: Die Tatsache, dass ich hier stehe und diese Schale abwasche, ist die wunderbare Wirklichkeit. Ich bin ganz ich selbst, folge meinem Atem und bin mir meiner Präsenz, meiner Gedanken und Handlungen völlig bewusst. Diese Bewusstheit verleiht mir eine innere Festigkeit und verhindert, dass mein Geist wie eine Flasche in den Wellen des Ozeans hin und her geworfen wird.
Die Tasse in der Hand
Als mein lieber Freund Jim Forest und ich uns vor acht Jahren zum ersten Mal begegneten, arbeitete er bei der katholischen Friedensgesellschaft. Im letzten Winter kam mich Jim besuchen. Nun wasche ich gewöhnlich das Geschirr gleich nach dem Abendessen ab, bevor ich mich wieder den anderen widme und mit ihnen Tee trinke. An einem Abend fragte mich Jim, ob er dies nicht heute einmal übernehmen solle. Ich sagte: „Ja, mach nur, aber wenn du abwäscht, dann musst du auch wissen wie." Jim entgegnete: „Na hör mal, meinst du, ich weiß nicht, wie man Geschirr spült?" Ich entgegnete ihm: „Weißt du, es gibt zwei Arten, Geschirr zu spülen: einmal so, dass man hinterher sauberes Geschirr hat, und die zweite Art besteht darin, abzuwaschen, um abzuwaschen!"
Jim war erfreut und sagte: „Dann wähle ich die zweite Art - abwaschen, um abzuwaschen." Von nun an wusste Jim, wie man den Abwasch macht, und gern übertrug ich ihm die Verantwortung dafür gleich die ganze Woche.
Wenn wir beim Abwasch lediglich an die Tasse Tee denken, die uns erwartet, und wir uns deshalb beeilen, um es schnell hinter uns zu bringen, als wäre der Abwasch eigentlich etwas völlig Überflüssiges, dann waschen wir keineswegs ab, „um abzuwaschen". Ja, wir leben dann eigentlich auch gar nicht, während wir abwaschen! Wir sind unfähig, das Wunder des Lebens zu begreifen, wenn wir mit dieser Einstellung am Spülbecken stehen. Wenn wir aber nicht einmal bewusst abspülen können, liegt es nahe, dass wir auch nicht in der Lage sind, wirklich unseren Tee zu trinken. Dann trinken wir zwar unseren Tee, denken aber pausenlos an andere Dinge und sind uns der Tasse in unserer Hand kaum bewusst. So verschlingt uns die Zukunft - und wir sind leider gänzlich unfähig, auch nur eine Minute lang unser Leben wahrhaftig zu leben.
Können wir wirklich eine Mandarine essen?
Viele Jahre ist es jetzt her, aber ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als ich mit Jim zum ersten Mal in die Vereinigten Staaten reiste. Eines Tages saßen wir unter einem Baum und aßen Mandarinen. Jim fing an, über unsere Zukunftspläne zu sprechen. Wann immer wir Pläne machten oder irgendwelche Vorhaben entwickelten, die spannend und interessant waren, konnte sich Jim derart hinein vertiefen, dass er im wahrsten Sinne des Wortes vergaß, was er im Augenblick gerade tat. Er nahm ein Stück Mandarine in den Mund, und bevor er überhaupt begonnen hatte zu kauen, steckte er sich bereits das nächste Stück in den Mund. Er bekam überhaupt nicht mit, dass er eine Mandarine aß. Ich brauchte dann nur zu sagen: „Du solltest zuerst das Stück essen, das du im Mund hast", und Jim merkte, was er tat.
Durch diese Angewohnheit war es aber im Grunde so, als hätte er überhaupt keine Mandarine gegessen, oder wenn er etwas aß, dann aß er allenfalls noch seine Zukunftspläne.
Eine Mandarine besteht aus einer ganzen Anzahl von Stücken. Gelingt es uns, auch nur ein Stück wirklich zu essen, so können wir vermutlich auch die ganze Mandarine essen. Essen wir aber dieses eine Stück nicht wirklich, können wir wohl auch die ganze Mandarine nicht essen. Jim verstand. Er ließ die Hand ruhen und richtete seine Aufmerksamkeit auf das Stück Mandarine, das er gerade im Mund hatte. Sorgfältig kaute er es, bevor er das nächste Stück in die Hand nahm. Später kam Jim wegen seiner Antikriegs-Aktivitäten ins Gefängnis. Ich machte mir Sorgen, dass er es in der engen Gefängniszelle nicht aushalten würde, und schickte ihm einen kurzen Brief: „Denkst du noch manchmal an die Mandarine, die wir miteinander gegessen haben? Dein Aufenthalt im Gefängnis gleicht dieser Mandarine. Schluck es und sei eins damit! Morgen ist es vorbei."
(Das Wunder der Achtsamkeit, Theseus Verlag, Berlin-Stuttgart, (1988), S.13-20)
Publiziert am: Samstag, 13. Februar 2016 (1208 mal gelesen)
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