Der Engel und sein Mensch
Der Engel steht uns immer treu zur Seite.
Stets will er führen uns zum wahren Heil.
Doch wir verwehren ihm manchmal, dass er uns leite.
Wir Menschen tanzen ja auf schmalem Seil
und fallen rechts und links von ihm oft runter -
habgierig, grausam, lustlos, tierisch geil.
»Wo bist du hin? Noch eben warst du da -
Was wandtest du dich wieder abwärts, wehe,
nach jenem Leben, das ich nicht verstehe,
und warst mir jüngst doch noch so innig nah.
Ich soll hinab mit dir in deine Welt,
aus der die Schauer der Verwesung hauchen,
ins Reich des Todes soll ich mit dir tauchen,
das wie ein Leichnam fort und fort zerfällt?
Wohl gibt es meinesgleichen, eingeweiht
in eure fürchterlichen Daseinsstufen...
Doch ich bin 's nicht. Nur wie verworrnes Rufen
erschreckt das Wort mich eurer Zeitlichkeit.
Lass mich mein Haupt verhüllen, bis du neu
mir wiederkehrst, so rein, wie ich dich liebe,
von nichts erfüllt als süßem Geistestriebe
und deinem Urbild wieder strahlend treu!«
(Christian Morgenstern, Der Engel)
Publiziert am: Freitag, 12. Februar 2021 (813 mal gelesen)
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