Das vollkommene Alltägliche
Das Vollkommene kann nicht nur im Besonderen, an besonderen Orten (der Alhambra, dem Gipfel des Mont Blanc) und zu besonderen Zeiten (dem Hochzeitstag, einem wunderschönen Sonnenuntergang im Urlaub, im Frieden des Sabbat) gefunden werden, sondern auch im Alltäglichen, an jedem Ort, zu jeder Zeit.
Im Film „Der letzte Samurai“ wird ein heruntergekommener amerikanischer Offizier (gespielt von Tom Cruise) von der japanischen Regierung angeworben, um eine moderne Armee aufzubauen und sie dann gegen ein Dorf von Samurais in den Kampf zu führen, die gegen die vom Kaiser angeordneten Reformen rebellieren, weil sie ihre traditionelle Lebensweise behalten wollen. Die Kampagne mit den noch schlecht ausgebildeten Neusoldaten gegen die erfahrenen Berufskrieger endet in einer katastrophalen Niederlage; der Amerikaner wird gefangen genommen und in das Dorf der Samurai gebracht. Dort wird er immer mehr mit der anfangs fremdartigen Welt der Samurai vertraut, lernt immer mehr ihre Weltanschauung und moralische Haltung schätzen, erwirbt sich auch umgekehrt immer mehr den Respekt der Samurai. Vor allem bewundert er zunehmend, mit welcher Entschlossenheit und Ausdauer die Samurai sich darum bemühen, sich immer mehr zu vervollkommnen. In einer Szene des Films zeigt der Anführer der Samurai ihm einen vollaufgeblühten Kirschbaum, betrachtet nacheinander mehrere einzelne Blüten und sagt dann:
„Dieser Baum hat Tausende von Blüten. Aber unter Millionen findet man vielleicht eine einzige, die vollkommen ist.“
Am Schluss des Films kämpft der Amerikaner an der Seite dieses Anführers in einem aussichtslosen Kampf gegen die inzwischen gut ausgebildete und mit überlegenen Waffen ausgestattete neue Armee. Deren Kommandant, selbst ein ehemaliger Samurai, schämt sich schließlich wegen des würdelosen Abschlachtens der so tapfer und würdevoll in den Tod gehenden Krieger und lässt deshalb das Feuer einstellen, um dem Anführer Gelegenheit zu geben, Harakiri zu begehen. Der Anführer stürzt sich mit Hilfe des Amerikaners in sein Schwert. Bevor er stirbt, fällt sein Blick noch einmal auf einen voll aufgeblühten Kirschbaum, und seine letzten Worte sind:
„Sie sind alle vollkommen!“
Solange ich das Vollkommene im Besonderen suche, kann ich es im Alltäglichen nicht finden.
Solange ich das Vollkommene anderswo suche, kann ich es hier nicht finden.
Der Nobelpreisträger Karl Gjellerup erzählt in seinem Roman „Der Pilger Kamanita“ folgende Geschichte:
Der Buddha trifft in einem Nachtquartier, in der Halle eines Töpfers, auf einen dort ebenfalls übernachtenden Pilger, der ihm seine Lebensgeschichte erzählt. Nach einem bewegten Leben mit vielen Höhen und Tiefen hat er sich entschlossen, dem Leben in der Welt als letztlich trügerisch und unbefriedigend zu entsagen, und ist jetzt auf dem Weg zum Buddha, den er zu seinem Meister erwählt hat. Er wähnt den Buddha weit entfernt in seinem Hauptkloster, merkt nicht, dass der „Voll-Endete, der vollkommen Erwachte“, den er sucht, ihm unerkannt gerade hier schon jetzt gegenübersitzt. Der Buddha erklärt ihm als Erwiderung auf die Lebenserzählung des Pilgers seine Lehre vom Leiden und der Auflösung des Leidens. Der Pilger Kamanita aber sieht in der Lehre des Buddha einen Mangel. Er sieht darin einen Fehler, weil ihm darin etwas fehlt. Befreiung vom Leiden ist ihm nicht genug. Er sucht darüber hinaus selige Wonnen im Jenseits. Er bemängelt, dass der Buddha darüber keine Aussagen gemacht hat. Der Buddha kann ihn nicht überzeugen. Als der Morgen graut, bricht der Pilger Kamanita hastig auf. Er hat erfahren, dass der Buddha sich nur eine Wegstunde entfernt in einem Mangohain aufhalten soll, und hat es jetzt sehr eilig, ihm endlich von Angesicht zu Angesicht zu begegnen. Da er nur noch möglichst schnell sein Ziel erreichen will, ist er unaufmerksam, sieht nicht rechtzeitig, dass eine durchgehende Kuh auf ihn zugerannt kommt, die ihn mit ihren Hörnern aufspießt. Als zwei enge Schüler des Buddha den Meister suchen, finden sie den schon bewusstlosen sterbenden Pilger, der nicht mehr erkennt, dass er den Vollkommenen, den er eifrig suchte, in der Nacht schon gefunden hatte, und dass er ihn bei Tag nicht mehr finden wird, weil er ihn zu eifrig suchte.
Ein römischer Statthalter namens Pontius Pilatus stellt an den Mann, der gefesselt vor ihm steht, die Frage: „Was ist Wahrheit?“
Die Antwort steht vor ihm - und er sieht es nicht.
Publiziert am: Dienstag, 17. März 2020 (1076 mal gelesen)
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