Stehen und Gehen
(Kein Anfang, kein Ende)
Nur, was für sich alleine steht,
kann stille steh’n und einfach bleiben
im eigenen, unbegrenzten Sein.
Das, was in einer Reihe steht,
zwischen dem Ersten und dem Dritten,
ein „vorher“ und ein „nachher“ kennt,
muss werden, sich bewegen, gehen,
weg von dem Dritten, hin zum Ersten,
weg von dem Letzten, hin zum Nächsten.
Das, was als eines alles ist,
es kann nur sein, kann gar nicht werden;
es kann nur steh’n, kann gar nicht geh’n.
Es ist das nachbarnlose Eine.
Von welchem Ort könnt’ es denn kommen?
Zu welchem Ort sollt’ es denn geh’n?
Lass das, was jetzt alleine steht,
nur einfach das sein, was es ist!
Mache es nicht zu einem Anfang!
Mache es nicht zu einem Ende!
In ihm fängt nicht ein Anderes an.
In ihm hört nicht ein Anderes auf.
Es gibt nichts Anderes außer ihm.
Es gibt kein Zweites neben ihm,
keins vor ihm und keins hinter ihm.
Mache aus ihm für dich nicht weniger,
als was es für sich selber ist!
Dann sehnst du dich nicht mehr danach,
dass etwas furchtbar Schlimmes endet.
Dann hoffst du auch nicht mehr darauf,
dass etwas Schönes, Gutes anfängt.
Dann hörst du endlich auf, zu warten.
Dann liebst du endlich das, was ist.
Kommentar:
Karl Gjellerup erzählt in seinem Roman „Der Pilger Kamanita“ folgende „wunder-volle“ Geschichte:
In einem großen Wald trieb einst der berüchtigte Räuber Angulimala sein Unwesen. Er überfiel die Reisenden, brachte sie um, nachdem er ihnen alles Wertvolle mit Gewalt abgenommen hatte, oder erpresste für sie ein hohes Lösegeld. Dieser Räuber sah eines Morgens von einem nahen Feld aus mit großem Erstaunen, wie ein alter, doch immer noch rüstiger Mönch entschlossen und unbeirrt von den warnenden Rufen der Landarbeiter auf den Wald zuschritt und schließlich in ihm verschwand. „Hat dieser Alte denn gar keine Angst vor mir, dem schrecklichen Räuber?“, dachte Angulimala. Doch seine Verwunderung verwandelte sich schnell in Ärger, darüber, dass dieser Mönch ihn anscheinend so wenig ernst nahm, dass er es wagte, alleine und waffenlos durch „seinen“ Wald zu laufen. Und wenn Angulimala sich ärgerte, dann hatte das für den, der ihn ärgerte, meistens tödliche Folgen. Kurz entschlossen entschied sich der Räuber, den unverschämten Alten einfach zu ermorden. Das schien ihm auch ein Kinderspiel zu sein, etwas, was er nebenbei mit links erledigen würde. Er hatte es doch schon mit zehn starken Männern gleichzeitig aufgenommen und sie alle erschlagen. Angulimala lief also dem Mönch hinterher, und als er auf Sichtweite an ihn herangekommen war, zog er einen Pfeil aus dem Köcher, spannte ihn und schoss ihn ab. Er wusste, dass er ein hervorragender Schütze war, der gewohnt war, sicher zu treffen. Doch diesmal sauste der Pfeil hoch über dem Kopf des Alten vorbei. „Ich muss einen schlechten Pfeil erwischt haben“, dachte Angulimala und griff nach einem zweiten, diesmal ohne Zweifel von makelloser Qualität. Doch auch damit verfehlte er das Ziel, schoss weit neben der rechten Schulter des Mönchs ins Leere. Und der dritte Schuss ging genauso daneben; der landete weit entfernt von der linken Schulter seines „Opfers“ irgendwo im Wald. Wäre Angulimala nicht der kaltblütige, abgebrühte Räuber gewesen, den so leicht nichts erschüttern konnte, wäre er jetzt sehr verwirrt und durcheinander gewesen. Doch weil er eben der war, der er war, besann er sich sofort und lief diesem merkwürdigen Alten hinterher, um ihm dann eben seinen Speer in den Rücken zu werfen. Doch so schnell er auch rannte, so sehr er sich auch abmühte, er kam nicht näher an den Mönch heran, obwohl der gar nicht schnell ging, sondern ohne Eile in ruhigem Gleichmaß vorwärtsschritt. Angulimala war jetzt doch ziemlich erschreckt über das unglaubliche Geschehen, das er sich überhaupt nicht erklären konnte. Als er erschöpft schon aufgeben wollte, weil dieser seltsame Mönch für ihn anscheinend nicht erreichbar und nicht angreifbar war, rief er als letzten verzweifelten Versuch zu ihm herüber: „He, Alter, bleib endlich stehen!“ und hörte eine Antwort, über die er sich noch mehr wunderte, die er genauso wenig einordnen konnte wie das, was gerade vor sich ging: „Ich stehe, Angulimala, stehe auch du!“ Angulimala wollte jetzt diesen seltsamen Menschen vor ihm gar nicht mehr umbringen. Er wollte nur noch verstehen: das Merkwürdige, was hier geschah, und diese merkwürdigen Worte. Er merkte, dass der Alte jetzt zuließ, dass er ihm näher kam, dass er ihn erreichte. Als er neben ihm angekommen war, fragte er: „Erkläre mir doch, welche verborgene Bedeutung deine Worte haben! Denn sie scheinen ja Unsinn zu sein, mit der Wirklichkeit nicht überein zu stimmen, der Erfahrung zu widersprechen. Du sagst, dass du stehst, obwohl du doch offensichtlich gehst, und forderst mich dazu auf, dass auch ich stehen soll, obwohl ich doch nur dadurch zu dir kommen konnte, dass ich gegangen bin.“
Darauf antwortete der merkwürdige Alte:
„Ich, der ich mit allen Wesen in Frieden bin, stehe.
Du aber, der du alle verfolgst, mit Gewalt und Tod bedrohst, du rennst von einem Leid zum nächsten.“
Er ist der Buddha, der Vollkommene,
der an das Ende seines Wegs Gekommene,
der nur noch ist, was er schon ist,
nicht mehr zu mehr, zu Anderem wird;
der von nirgendwo herkommt,
der nach nirgendwo hingeht;
der auch im Sein steht, wenn er geht.
Der Räuber ist durch Streit und Zwist ent-zweit von allen Wesen.
Er hat sich gegen viele Andere gestellt, hat viele Andere gegen sich gestellt.
Der Buddha ist als einer alles, weil er mit allen eins im Frieden ist.
Publiziert am: Dienstag, 17. März 2020 (948 mal gelesen)
Copyright © by Rudolfo Kithera
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