Am Sabbat wie am Sabbat leben
Zunächst einmal nahm Hartmut sich vor, wenigstens am Sabbat auch wie am Sabbat zu leben.
An den „Sabbattagen“ gab Hartmut sich ein „Gestaltungsverbot“: Alles zu unterlassen, was verändernd in die Außenwelt eingreift, nichts neu zu erschaffen, nichts weiter zu führen, nichts besser zu machen. Statt dessen alles so zu lassen, wie es ist, sich zu freuen über das, was schon da ist, dankbar zu sein für das, was da war; das Gegenwärtige zu genießen und zu sehen, dass es vollkommen genug und genug vollkommen ist - die Schechina, die Gegenwart Gottes.
Dieses Verbot zielstrebiger Tätigkeit war natürlich am leichtesten einzuhalten, wenn man sich auf die Couch legte und dort liegen blieb, seinen Körper in einen Zustand brachte, in dem er gar nichts tun konnte, und dann seine Aufmerksamkeit auf die Vergangenheit richtete, die ja nicht veränderbar war, also auch den Geist in einen Zustand versetzte, in dem er sich nicht mit Handlungsmöglichkeiten befassen konnte, auch der Geist nichts tun konnte.
Der Sabbat ist ja eine Zeit, geprägt von feierlichem, würdevollem Stolz und froher, freudvoller Dankbarkeit. Gott sah am 7.Tag zurück auf das, was er in 6 Tagen geschaffen hatte. Und er sah, dass es gut war. Auch der Mensch sieht glücklich zurück auf die letzten 6 Tage, einerseits mit Stolz auf das Glück, was er sich selbst geschaffen hat, was ihm geglückt ist, andererseits mit Dankbarkeit auf das Glück, das ihm geschenkt worden ist, durch Gottes Gnade, ein wohlwollendes Schicksal, günstige Umstände.
Der Blick geht zurück in die Vergangenheit, froh dass kein Un-Heil geschehen ist, im Frieden mit dem, was geschehen ist.
Um auch diese Haltung der Dankbarkeit gegenüber der Vergangenheit anzunehmen, nahm sich Hartmut an Sonn- und Feiertagen - auf besagter Couch liegend - manchmal eine gewisse Zeit dafür, sich an herausragend erfüllende, besondere Erfahrungen zu erinnern. In dieser Spanne Zeit lebte er, was er im Gedicht „Sabbatstimmung“ beschrieben hatte. Er fand das Voll-Endete, das Voll-Kommene, das an sein Ende Gekommene, das in die ganze Fülle Gekommene, in dem nichts fehlte und störte, in dem er ankommen und bleiben konnte.
Diese Übung war eine vereinfachte Fassung, der Kern der Positivitätsübung, die Hartmut für seine Patienten entwickelt hatte.
Er ließ diese Erfahrungen nicht in Form eines Films noch mal in sich ablaufen, mit Bildern, die in einer Reihe standen, in einem zeitlichen Ablauf auseinander und aufeinander folgten, sondern als eine zusammenhanglose Ansammlung von Standbildern, in der jedes Bild alleine stand, in diesem Augenblick als eines alles war.
Diese Erfahrung war jedoch geprägt durch ein sehr starkes Auswählen und dadurch Ausschließen. Sie verstellte den Blick dafür, dass Vollkommenheit ja nicht nur in solchen außergewöhnlichen Ausnahmeerfahrungen zu finden ist, sondern auch im gewöhnlichen Alltag, immer und überall. Von diesem Makel frei war eine andere Erfahrung, die Hartmut deshalb an den meisten „Sabbattagen“ bevorzugte: die achtsame Wahrnehmung des Atmens.
Ich lese Ihnen mal einen Entwurf vor, den Hartmut damals geschrieben hat:
„Hartmut liegt mit geschlossenen Augen auf der Couch. Er fühlt, wie er einatmet, er fühlt, wie er ausatmet. Er findet das Vollkommene. Dieser Atemzug ist vollkommen, weil er völlig für sich allein steht, weil er mit keinem Atemzug, der schon war, und mit keinem, der noch sein wird, etwas zu tun hat. Er ist unbelastet von allem, was schon geschehen ist. Unschuldig wird er in diesem Augenblick neu geboren, erstmalig und einmalig, ein staunenswertes Wunder. Und er wirft keinen Schatten voraus auf das, was (vielleicht) kommen wird, ist bedeutungslos für alles Zukünftige. Wegen dieser Freiheit von aller Vergangenheit und dieser Bedeutungslosigkeit für jede Zukunft ist dieser Atemzug in diesem Augenblick vollkommen. Und gerade wegen dieser Bedeutungslosigkeit für alles, was nicht jetzt geschieht, bedeutet er alles."
Hartmut wollte diesen Atemzug, er liebte diesen Atemzug. Oder der Atemzug wollte sich mit Hilfe von Hartmut selber, liebte sich selber. Hartmut war Erfahrung, die sich selber wollte und liebte.“
Nun ist es ja auf die Dauer etwas einseitig, den ganzen Tag auf der Couch zu liegen, zu atmen und in wunderschönen Erinnerungen zu schwelgen. Er nahm sich vor, zwar diesen Zustand der Un-Tätigkeit aufzugeben, jedoch auch im Tun trotzdem in der Erfahrung der Gegenwart zu bleiben, keine jetzige Lebensqualität für eine zukünftige zu opfern. Das erschien ihm am einfachsten, wenn er nur in dem tätig war, was er schon kannte, was er schon wusste, von dem er wusste, dass es genug war, schön genug und gut genug; wenn er nichts Neues suchte, nichts Neues erprobte. Er wollte nur etwas lesen, was er schon gelesen hatte, nichts Unbekanntes - und natürlich nichts schreiben. Er wollte im Computer nur ein Foto anschauen, was er gemacht hatte und was fertig war, nicht eins, was noch bearbeitet werden musste - und natürlich wollte er nicht im Internet neue Fotos suchen oder selber neue Fotos machen.
Das stellte sich als schwieriger heraus als er gedacht hatte.
Er hielt sein Vorhaben nie lange durch, meistens noch nicht einmal einen ganzen Sabbat-Tag.
Marilyn Monroe hat ja mal gesagt.
„Eigentlich wollte ich immer treu sein.
Aber irgendwie hat es nie geklappt.“
Hartmut hätte sagen können:
„Eigentlich wollte ich immer faul sein -
wenigstens mal für einen Tag.
Aber irgendwie hat das nie geklappt.“
Er war eben ein taten-hungriger, tat-besessener Europäer, ein Nachfahre römischer Schnellstraßenbauer und beutegieriger Raubgermanen.
Es stritten sich in ihm der Künstler und der Mystiker, der Seinsverbesserer und der Seinsfinder, der, der die Welt vollkommen machen will, und der, der sieht, dass sie schon vollkommen ist. Nach einiger Zeit setzte sich in ihm immer wieder der auf Fortschritt und Weiterentwicklung ausgerichtete „Optimierer“ durch, gegen den „Optimalisten, der sieht, dass das, was jetzt ist, schon optimal ist, nicht erst optimal gemacht werden muss; gar nicht optimal gemacht werden kann, weil es das schon ist.
Beim Anschauen der schon „perfekten“ Fotos stieß er dann doch irgendwann auf eins, das danach schrie, weiter bearbeitet zu werden, auf Fotos, die scheinbar forderten, geordnet zu werden; beim Lesen schon bekannter Sätze wurde er neugierig auf Sätze, die er noch nicht kannte, entstand ein Drang, weiter zu lesen.
Und sobald er auch nur ein Mal einer solchen „Versuchung“ nachgegeben hatte, nach einem einzigen „Sündenfall“, hatte er sich selbst aus dem Paradies vertrieben und fand keinen Weg zurück mehr. Es war, als wäre ein Schalter umgelegt worden. Mit einem einzigen Schritt hatte er das Land des Seins, das Reich der Eins, verlassen, hatte das Land des Tuns, das Reich der Zwei betreten, wurde dort sofort gefangen genommen und fest gehalten.
Es entstand ein Drang zum Weitermachen, der sich zu einem immer stärkeren Sog steigerte, sich immer mehr zu einem Zwang entwickelte.
Hartmut sah schließlich ein, dass er nicht verhindern konnte, auch am Sabbat in gestaltendes Tätig-Sein abzurutschen. Um sich nicht aber sofort wieder auf die Zukunft auszurichten, sich wieder in das Verfolgen von Absichten und das Erreichen von Zielen zu verlieren, nahm er sich vor, auch im Handeln in der Gegenwart zu bleiben, nur das zu wollen, was er gerade tat, sein Handeln zu wollen, nicht den Erfolg, die Früchte des Handelns.
Er merkte jedoch, dass auch das schwieriger war als er vermutet hatte. Um im absichtslosen Handeln zu bleiben, musste er das, was er im Moment tat, aus jedem Zusammenhang lösen, völlig für sich allein stehen lassen.
Er musste einen Satz schreiben und dann den Kugelschreiber weglegen.
Er musste nur eine Zahl im Sudoku finden und dann nicht weitersuchen.
Er musste sich ein einziges Foto ansehen (oder bearbeiten) und dann den Computer ausschalten.
Er musste sich ein Lied anhören und dann den Kopfhörer abnehmen.
Er musste sich darauf beschränken, in
Titelbildern, Schlagzeilen und Überschriften zu leben,
durfte sie nicht in Bewegung kommen lassen in einen Film, in einen Text.
Nur dann war er sicher, sich nicht wieder in zielorientieres Handeln zu verlieren.
Doch auch diese Haltung, in isolierten Einzelhandlungen zu leben, war schwierig durch zu halten.
Für die „Nicht-Sabbat-Tage“ der Woche nahm sich Hartmut vor, alles zu vermeiden, was Unruhe und Hast ins Leben bringt:
Er wollte die Zeit nutzen - dafür, sich und anderen Zeit zu geben, Zeit zu lassen.
Er wollte möglichst nichts mehr unter Zeitdruck tun, wollte sich nicht mehr unter Druck setzen, etwas möglichst schnell zu erreichen oder zu erledigen, bis zu einem bestimmte Zeitpunkt fertig zu machen.
Er wollte sich nicht mehr voran treiben, nicht mehr gehetzt wie auf der Flucht vorwärts stürmen.
Er wollte in seinem "Tage-Werk", durch das er wirkte und sich verwirklichte, sich nicht mehr von einem Ziel schnell nach vorne ziehen lassen.
Er wollte eilen mit Weile.
Er wollte sich in den nächsten Schritt weiter gleiten lassen, Schritt für Schritt, "einfach so".
Denn
den Weg, den ich gehe, kann ich verlieren;
den Schritt, den ich gehe, nicht;
den Schritt, den der Schritt geht, nicht.
Er wollte gehen, ohne zu gehen.
Darüber hat er ja in den „Zen-Gedichten“, vor allem in „Schon auf dem Weg am Ziel sein“, ausführlich geschrieben.
Das alles war ja durchaus vernünftig, einfach eine Sache des gesunden Menschenverstands. Solange man dem gesunden Menschenverstand folgt, geht man auf sicherem Boden unter dem Seil; oder man hält sich eine Zeit lang oben, fällt irgendwann runter, klettert wieder rauf und macht weiter.
Doch das war Hartmut nicht genug. Er entschloss sich zu einem radikalen Versuch, den er das „Sabbatexperiment“ nannte. Damit verließ er den sicheren Boden; und bei dem Versuch, auf dem Seil zu tanzen, stürzte er wegen der klaren Neigung zu einer Seite natürlich sofort ab - immer wieder.
Publiziert am: Sonntag, 08. März 2020 (1178 mal gelesen)
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