Arabische "Leitkultur"
„Sie teilen mit Hartmut die unsinnige Befürchtung, diese Kulturen seien gerade dabei, den „Westen“ zu erobern oder zu unterwandern?
Nun, ich werde darauf auf der Ebene Ihrer Unwissenheit antworten. Denn auf der Ebene der wahren Wirklichkeit ist ein solcher Gedanke gar nicht denkbar, kann und muss deshalb gar nicht beantwortet werden. Auf der Ebene der Wahrheit ist ja nie etwas geschehen, auch die Geschichte nicht. Geschichte ist für den Wissenden ja nur die Abfolge von Geschichten, die nie geschehen sind, erfunden von Egos, die es nie gab, damit sie sich einreden können, dass es sie gibt.
Sie sind doch anthroposophisch orientiert – jedenfalls, was ihre Geschichtsauffassung betrifft – und gehen deshalb doch auch davon aus, dass die Entwicklung der Menschheit insgesamt ein Fortschreiten, ein Emporschreiten zu höheren Stufen ist; dass sie von einem Wesen, das souverän über die Zeit herrscht, in eine sinnvolle Richtung gelenkt wird; und dass es in jeder Zeitepoche eine diese Höherentwicklung maßgeblich bestimmende, führende Kultur gibt, die ich einfach mal „Leitkultur“ nenne.
Wenn der Weltgeist wollte, dass sich die islamische Kultur mit Gottesstaat, Gotteskriegern (Dschihadisten) und Gottesstrafrecht (Scharia), Männerherrchaft und Vier-Frauen-Ehe als Leitkultur durchsetzt, dann wäre das schon längst passiert. Dann hätte der Weltgeist schon vor über 1300 Jahren eine günstige Gelegenheit gehabt, die Entwicklung in diese Richtung zu lenken. Er hätte dafür noch nicht einmal etwas tun müssen; er hätte nur das Weltgeschehen einfach geschehen lassen müssen, ohne darin einzugreifen. Es sah damals ganz danach aus, als würde das noch unentwickelte Abendland überrannt im Sturmfeuer der islamischen Expansion. Byzanz, das letzte Bollwerk des Christentums, war von einer überlegenen Land – und Seestreitmacht belagert, und es war nur eine Frage der Zeit, bis es fallen würde. Gerade in dieser ausweglosen Situation geschah ein Wunder. Ein Zufall? Ein Flüchtling aus einer phönizischen Küstenstadt erfand das „griechische Feuer“. Ein unlöschbares Gemisch, mit dem die Byzantiner die feindliche Flotte fast vollständig vernichten konnten.
Als Spanien, die damalige Weltmacht, die im trauten Zusammenwirken mit der römisch-katholischen Kirche die abendländische Menschheit in der nicht mehr zeitgemäßen Unmündigkeit des Mittelalters zurückhalten wollte, mit ihrer überlegenen Flotte, der Armada, dabei war, das "zukunftsträchtige" England zu erobern, das die Keime des selbständigen modernen Denkens und Handelns in sich trug, verhinderten das mehrmals (nicht nur, aber auch) Stürme.
Als die Mongolen mit ihren Reiterhorden vor Europa standen, um es genau so zu überrennen wie andere Großreiche zuvor, trat im fernen Zentralasien das Pferd des Großkhans in eine Kaninchenhöhle; der Mongolenherrscher stürzte vom Pferd und starb an den Folgen dieses Reiterunfalls. Sein Tod rettete damals Europa.
Solche Ereignisse, genau zu diesem Zeitpunkt, sind eben keine Zufälle, sondern das Eingreifen des Weltgeistes in die Geschichte.“
„Ja; natürlich haben Sie Recht. Die arabische Kultur wurde ja trotzdem „Leitkultur“ und ist es auch mindestens weitere 500 Jahre geblieben. Arabisch war damals so eindeutig die Weltsprache wie heute das Englische. Admiral und Havarie, Algebra und Ziffer, Rabatt und Tarif, Alchemie (Chemie), Elixier und Alkohol, Arsenal und Magazin, Artischocke und Borretsch, Safran und Zucker, Karaffe und Sorbet, Matratze und Sofa, Laute und Makramee sind alle Fremdworte aus dem Arabischen.
Als Karl der Große eine Gesandtschaft an den Kalifen Harun ar Rashid nach Bagdad schickte, war das in etwa damit vergleichbar, dass im 19. Jahrhundert ein afrikanischer Stammesfürst aus dem Kongo eine Gesandtschaft an die Queen Victoria schickte.
Dass das arabische Weltreich die Rolle der Leitkultur übernahm, war auch notwendig; denn die jungen germanischen, romanischen und slawischen Nationen waren nicht in der Lage, das Erbe der Antike, der Griechen und Römer, aufzunehmen und durch die Zeit zu retten. Sie waren noch minderjährig, sie brauchten einen Erbverwalter. Und ein solcher zu sein, das war die Aufgabe des arabischen Weltreiches.
(Als Anthroposoph werden Sie natürlich einwenden, dass die eigentliche Aufgabe der arabisch-islamischen Welteroberung darin bestand, die schädliche Wirkung der Akademie von Gondishapur abzuschwächen und ins Religiöse abzulenken. Doch da außerhalb der Anthroposophie sehr wahrscheinlich keiner etwas von dieser Akademie gehört hat, halte ich mich lieber an den Mainstream der Geschichtsbetrachtung.)
Europa hat dann im Laufe eines halben Jahrtausends sich sein Erbe von den Arabern zurückgeholt - natürlich in einer weiter entwickelten Form, bereichert durch „Importe“ aus Indien und China (z. B. unsere heutigen „arabischen“ Ziffern, die eigentlich indische Zahlzeichen sind). Ohne die Araber würden wir noch mit den schwerfälligen römischen Zahlen rechnen. Auf der Basis einer römische Mathematik hätte sich sehr wahrscheinlich unsere europäische Naturwissenschaft und unsere weltbeherrschende Technik gar nicht entwickeln können. Vor allem über die Berührungspunkte Jerusalem, Palermo und Toledo floss die überlegene arabische Kultur nach Europa ein.
Dieser Prozess war um 1250 abgeschlossen, Europa wurde volljährig und übernahm auch äußerlich klar erkennbar die Führung, in der Architektur mit den gotischen Kathedralen, in der Philosophie mit der Scholastik. Die arabische Weltkultur wurde durch die verheerende Angriffswelle der Mongolen so geschwächt, dass sie sich davon nicht mehr erholt hat. An ihre Stelle traten politisch die Türken, das Osmanische Reich, kulturell die Perser, die jedoch viel weniger produktiv waren. Und der arabische Raum selbst stagniert vor allem wegen der jahrhundertelangen (korrupten) türkischen Besatzung und Herrschaft seit einem halben Jahrtausend.
Daran würde sich auch nichts ändern, wenn in den reichen Golfstaaten die großartigsten Opernhäuser der Welt erbaut würden. Denn entscheidend ist letztlich ja nicht, welche Opernhäuser in einem Land stehen. Entscheidend ist, wie viele großartige Opernsänger-innen! es hervorbringt.
Die arabische Kultur war also für einen langen Zeitraum eine (Übergangs-)Leitkultur. Sie ist es schon lange nicht mehr. Und gerade weil sie es einmal war, wird sie es nie wieder sein. Denn der Fortschritt der Menschheit geht nicht dahin zurück, wo er einmal war. Indien, Persien, Ägypten und Mesopotamien, Griechenland und Rom, sie waren alle mal führend, waren es irgendwann nicht mehr, sind es nie mehr geworden. Und als Anthroposoph wissen Sie ja: auch meine westliche Kultur, die heute „Leitkultur“ ist, wird es irgendwann nicht mehr sein und nie mehr werden.“
Publiziert am: Sonntag, 08. März 2020 (1143 mal gelesen)
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