Langkofelblick
Der Langkofel reckte sich wie immer in die Höhe und sah von oben auf sein Gegenteil: die Rinne, die von den Menschen, diesen winzigen Wesen, die vor Kurzem in großen Scharen zu seinen Füßen aufgetaucht waren, Eisacktal genannt wurde.
Das hatte er schon getan, als Tausende von diesen Wesen, die sich Römer nannten, durch diese Rinne in das Nordland zogen, das jenseits seiner großen Brüder lag, um andere solche Winzlinge mit spitzen, scharfen Eisenstäben zu erschlagen, wobei sie allerdings mit Entsetzen die Erfahrung machen mussten, dass sie selbst gerade von denen, die sie doch erschlagen wollten, erschlagen wurden. (Die Menschen nannten dieses Abschlachten die „Schlacht im Teutoburger Wald“.)
Er hatte auf diese Rinne geschaut, als – gemessen an der Lebensspanne eines Berges – kurze Zeit später Nachkommen derer, die diese Römer erschlagen hatten, in das Land zogen, aus dem die Römer gekommen waren, um ihre Eisenstäbe gegen andere Winzlinge aus dem Nordland zu erheben, die schon vor ihnen in dieses Land gewaltsam eingefallen waren.
Und er schaute auch jetzt auf dieses Tal, in dem sich die meisten Winzlinge nicht mehr auf ihren eigenen Füßen bewegten, sondern viel schneller in engen Behältern aus Blech, für die sie extra eine lange Schiene aus Asphalt gebaut hatten.
Unter dem Langkofel lief eine kleine Schar dieser Wesen über eine der Wiesen, auf denen unzählige Krokusse – von der behindernden Schneelast befreit – dankbar die Sonne begrüßten.
Doch sie sahen nicht die Pracht zu ihren Füßen, auch nicht das Wunder über ihren Köpfen, den mächtigen, zum Himmel ragenden Berg. Sie waren gefangen in ihren Köpfen. Sie schufen sich gerade in ihnen Bilder, von denen sie nicht wollten, dass sie auch außerhalb der Köpfe Wirklichkeit werden, und wurden jetzt von ihren eigenen Schöpfungen gefesselt und gequält. Der Langkofel hörte, wie einer von ihnen sagte: „Wenn wir Deutschen in 1000 Jahren über den Brenner fahren, werden wir nur noch Moscheen sehen, keine Kirchen mehr; und das Land hier wird auch nicht mehr Italien heißen, sondern Khalifat Süd-West.“
Der Langkofel gähnte gelangweilt: „Mir ist es völlig gleichgültig, für mich ist es unbedeutend, welchen Namen mir irgendwelche dieser Winzlinge geben. Ich bleibe derselbe Berg, ob ich nun Langkofel, Sassolungo oder Dschebel Sahlom heiße."
Er lächelte und dachte: „Wie unvernünftig sind doch diese Menschen! Sie machen sich durch ihren Kopf so unnötig das Leben schwer, weil sie das, was sie in ihren Köpfen erschaffen, viel zu wichtig nehmen. Sie halten sich für so klug und blicken hochmütig auf die Kühe, die sie anscheinend vor meine Füße mitgebracht haben, als „dummes Rindvieh“ herab. Dabei könnten sie von diesen verachteten Kühen einiges lernen: die Kühe wissen, dass es nur wichtig ist, einfach wie eine Kuh zu leben. Die Menschen wissen anscheinend nicht, dass es nur wichtig ist, einfach als Mensch zu leben.
Publiziert am: Dienstag, 03. März 2020 (1003 mal gelesen)
Copyright © by Rudolfo Kithera
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