Sabbat II



Hartmut fiel auf, dass das schriftlich festgehaltene Gesetz des Moses, die Thora, einfach verbot, am Sabbat zu arbeiten, darüber hinaus aber nicht bestimmte, was denn dabei unter Arbeit zu verstehen sei. (Nur das Verbot, Feuer anzuzünden, wird konkret benannt.)

Wie waren aber denn dann die vielen komplizierten, manchmal skurril und spitzfindig anmutenden Einzelvorschriften entstanden, z. B das Verbot, am Sabbat einen Lichtschalter zu betätigen, weil sich dabei ja aus Versehen ein Funke bilden könnte, was dann das Anzünden eines Feuers wäre.

Hartmut erfuhr dazu aus dem Wikipedia-Artikel und aus Micheners historischem Roman Folgendes:

Neben dem in der Thora fest-geschriebenen Gesetz hatte Gott, der Herr,  Moses auch eine zusätzliche Gesetzeslehre gegeben, die immer von Lehrer zu Lehrer, von Mund zu Ohr weitergegeben worden war, aber bis zum zweiten großen Aufstand gegen die Römer nie aufgeschrieben worden war. In dieser mündlichen Tradition unterschied man 39 Haupttätigkeiten, die am Sabbat verboten waren. ( Bei der Auswahl dieser Tätigkeiten hatte man sich daran orientiert, welche Arbeiten beim

Bau der Stiftshütte, die die Israeliten während ihrer Wüstenwanderung dem sie führenden Gott als Wohnung errichtet hatten, notwendig gewesen waren.)  Am Sabbat verboten war es demnach, zu säen, zu pflügen, zu mähen, zu backen, zu spinnen, einen Knoten zu knüpfen, einen Knoten zu lösen, zwei Stiche zu nähen, ein Wild zu erlegen, das schon erwähnte Feuer-Anzünden, etc.

 

Von der Mitte des 2. nachchristlichen Jahrhunderts an begann das Judentum, diese Haupttätigkeiten genauer zu differenzieren und in Form der Mischna schriftlich festzulegen. Zu diesem Zweck tagte jahrhundertelang ein „permanentes Konzil“, zuerst in Palästina, dann im Perserreich, das sich aus den maßgeblichen Rabbinern zusammensetzte.

 

Michener erzählt in der „Quelle“  von einer tagelangen Diskussion darüber, ob es am Sabbat erlaubt sei, einen Goldzahn zu tragen:

 

 

ERSTER RABBI: Wir behandeln eine einzige Frage. Die Heiligung des Sabbat. Ich sage, der Mann darf ihn nicht tragen.
ZWEITER RABBI: Sprich offen! Auf Grund welcher Autorität erhebst du diesen Anspruch?
DRITTER RABBI: Höre zu. Rabbi Meïr hat es von Rabbi Akiba: Eine Frau, die am Sabbat mit einer Flasche voll duftendem Wasser aus ihrem Hause geht, damit sie gut rieche, macht sich der Eitelkeit schuldig und entheiligt den Sabbat. Der Fall ist der gleiche.
VIERTER RABBI: Ein weiterer Grund. Das Gesetz der Weisen verbietet, daß ein Mann am Sabbat einen Nagel von einem Galgen in seiner Tasche trägt. Warum? Er trägt ihn nur, weil er Glück bringt, und das ist verboten.
ZWEITER RABBI: Unsinn. Der Mann, von dem wir sprechen, tut es doch nicht, damit er Glück hat.
ERSTER RABBI: Hört auf die Weisen. Eine Frau soll am Sabbat ihr Haus nicht verlassen, wenn sie geflochtene Bänder trägt. Warum nicht? Sie lassen ihr Haar anziehender erscheinen, und das ist verboten. Darüber aber sprechen wir.
VIERTER RABBI: Auch darf sie nicht auf die Straße gehen, wenn sie ein Haarnetz trägt. Gewiß aus dem gleichen Grunde.
ZWEITER RABBI: Bedenkt jedoch: Eine Frau darf am Sabbat fortgehen und ein Pfefferkorn lutschen, um ihren Atem frisch zu halten.
ERSTER RABBI: Nur wenn sie es in den Mund genommen hat vor Sabbatbeginn.

DRITTER RABBI: Auch haben die Weisen stets daran festgehalten, daß sie das Pfefferkorn, falls es ihr während des Sabbat aus dem Mund fällt, nicht vor Sabbatausgang wieder in den Mund nehmen darf.
ZWEITER RABBI: Alles zugegeben. Aber unser Mann läßt ihn nicht aus dem Mund fallen. Und er hat ihn am Vorabend vor Einbruch der Nacht hineingetan.
ERSTER RABBI: Bezüglich dieser Erfordernis sind wir einig. Er muß ihn im Munde haben, ehe der Sabbat beginnt.
DRITTER RABBI: Die eigentliche Frage: Hat er überhaupt das Recht, ihn am Sabbat dort zu haben? Nein, denn es wäre ein Akt der Eitelkeit. Gleich dem Tun einer Frau, die einen goldenen Schmuck trägt. Was offensichtlich verboten ist.
ZWEITER RABBI: Zugegeben. Falls er nur als Schmuck dient, darf ihn der Mann am Sabbat nicht im Munde haben.
VIERTER RABBI: Und ich bleibe dabei, daß er lediglich Schmuck ist.
ZWEITER RABBI: Halt! Er trägt seinen falschen Zahn, damit er besser beißen kann.
VIERTER RABBI: Aber er könnte genau so leicht essen, wenn er ihn nicht hätte. Ein falscher Zahn für einen Mann ist nicht mehr und nicht weniger als ein goldener Kopfputz für eine Frau.
ZWEITER RABBI: Das kann nicht sein. Der Kopfputz ist ein Schmuck. Der Zahn ist eine Notwendigkeit.
DRITTER RABBI: Falsch. Der Goldzahn eines Mannes genau so ein Schmuck wie ein goldener…
ZWEITER RABBI: Wer spricht von einem Goldzahn? Ich habe gesagt: ein Zahn – ein falscher Zahn, der im Mund angebracht wird zum Zwecke besseren Kauens
DRITTER RABBI: Gibt es einen Unterschied zwischen einem falschen Zahn und einem goldenen falschen Zahn?
ERSTER RABBI: Allerdings! Der goldene Zahn wird nur zum Schmuck getragen.
ZWEITER RABBI: Stimmt nicht! Ein Mann kauft sich einen Goldzahn, weil er besser paßt als ein Zahn aus Stein und länger hält als ein Zahn aus Holz. Er handelt aus Klugheit, nicht aus Eitelkeit.
VIERTER RABBI: Irrtum! Irrtum!
DRITTER RABBI: Ist nicht ein im Mund angebrachter falscher Zahn das gleiche wie eine Locke, wie sie eine Frau an der Stirn befestigt? Und sagen die Weisen nicht, daß eine Frau solche Locken nicht tragen darf, es sei denn, sie sind dauernd festgenäht?
VIERTER RABBI: Wieso dauernd?
DRITTER RABBI: Damit sie die Locken nicht versehentlich am Sabbat ansteckt.
ERSTER RABBI: Es kann ihr zugetraut werden, daß sie nicht nähen wird. Denn das Nähen erfordert dreierlei: Nadel, Faden und Nähen. Sie weiß, daß all dies verboten ist. Eine Locke ans Haar stecken aber ist keine übliche Handlung, und das könnte sie vergessen. Daher ist es verboten.
DRITTER RABBI: Und ein falscher Zahn wird nicht auf die Dauer im Mund angebracht, sondern muß jeden Tag hineingetan werden, und deshalb ist es mit ihm genau wie mit den falschen Locken des Weibes, die nicht getragen werden dürfen.





 

In der ersten Zeit nach seiner Israelreise konnte Hartmut in den jüdischen Sabbatregeln nur ein unnötig kompliziertes Netzwerk überflüssiger Vorschriften erkennen, die den Menschen bevormunden und tyrannisieren. Dass diesem Arbeitsverbot am Sabbat ein höherer Sinn zugrunde liegt, wurde ihm erst klar, als er später ein paar Seiten bei Erich Fromm las.

 

Fromm, der aus einer streng religiösen Familie stammt, aus der viele Rabbiner hervorgegangen waren, und der einige Jahre lang selber Talmudstudien betrieben hat, sieht den Sabbat als Zustand des Friedens, der Harmonie, des Gleichgewichts zwischen Mensch und Natur, Mensch und Mensch.

 

 

 

"Zunächst fassen die Bibel und später der Talmud Arbeit nicht als körperliche Anstrengung auf, sondern die Definition lautet etwa: "Arbeit" ist jedes Eingreifen des Menschen - sei es konstruktiv oder destruktiv - in die physische Welt. "Ruhe" ist ein Zustand des Friedens zwischen Mensch und Natur. Der Mensch muss die Natur unberührt lassen, er darf sie in keiner Weise verändern, indem er etwas darin neu errichtet oder auch zerstört. Selbst die kleinste Veränderung, die der Mensch im Naturgeschehen vornimmt, stellt eine Verletzung der Ruhe dar. Der Sabbat ist der Tag vollkommener Harmonie zwischen Mensch und Natur. "Arbeit" ist jede Art von Störung des Gleichgewichts zwischen Mensch und Natur. Auf Grund dieser allgemeinen Definition können wir das Sabbatritual verstehen.
Jede schwere Arbeit - wie Pflügen oder Bauen - ist Arbeit in diesem wie auch in unserem modernen Sinne. Aber ein Streichholz anzünden oder einen Grashalm aus der Erde ziehen, das erfordert zwar keine Anstrengung, aber beides ist ein Symbol für das Eingreifen in den Naturablauf, es stellt einen Bruch des Friedens zwischen Mensch und Natur dar. Dieses Prinzip erklärt uns, warum der Talmud verbietet, irgend etwas, und sei es auch noch so leicht, mit sich zu tragen. An sich ist das Tragen nicht verboten. So darf ich zum Beispiel innerhalb meines eigenen Hauses oder Grundstücks eine schwere Last tragen, ohne dass ich damit das Sabbatgebot verletze. Aber ich darf nicht einmal ein Taschentuch von einem Bereich in einen anderen bringen - zum Beispiel aus einer Wohnung in den öffentlichen Bereich der Straße. Dieses Gebot stellt eine Ausweitung der Idee des Friedens vom sozialen Bereich der Natur dar. Der Mensch darf nicht in das Gleichgewicht der Natur eingreifen oder es verändern, genauso wenig wie er das soziale Gleichgewicht ändern darf. Das bedeutet nicht nur, dass er keine Geschäfte betreiben darf, sondern dass er auch die einfachste Form der Übertragung von Besitz, nämlich seine Beförderung von einem Bereich in den anderen, vermeiden muss.
Der Sabbat symbolisiert einen Zustand der Einheit zwischen Mensch und Natur und zwischen Mensch und Mensch. Indem man nicht arbeitet - d. h. indem man an dem Prozess von Veränderungen in der Natur und in der Gesellschaft nicht teilnimmt -, ist man frei von den Fesseln der Zeit, wenn auch nur an einem Tag der Woche."

(Erich Fromm, Ihr werdet sein wie Gott, Reinbeck)

 

 Am Sabbat lebt der Mensch, als hätte er nichts, als verfolgte er kein Ziel, außer zu sein, das heißt, seine wesentlichen Kräfte auszuüben - beten, studieren, essen, trinken, singen, lieben.
Der Sabbat ist ein Tag der Freude, weil der Mensch an diesem Tag ganz er selbst ist. Das ist der Grund, warum der Talmud den Sabbat die Vorwegnahme der Messianischen Zeit nennt und die Messianische Zeit den nie endenden Sabbat; der Tag, an dem Besitz und Geld ebenso tabu sind wie Kummer und Traurigkeit, ein Tag, an dem die Zeit besiegt ist und ausschließlich das Sein herrscht."
(Haben oder Sein, München 1979, S. 56)

 

Publiziert am: Dienstag, 22. Januar 2019 (1338 mal gelesen)
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