Fluch der Flucht
Wir flüchten vor dem Winter,
vor seiner Kälte, seiner Nässe,
ja in den letzten Jahren auf
die "Inseln der Glückseligen",
auf eine der Kanaren, fliegen
nach La Gomera und La Palma.
Doch die Kanaren waren
für die, die sie bewohnten,
nicht immer nur Glückseligkeit.
Auf ihnen lag auch oft ein Fluch,
lag oft der Fluch der Flucht.
Nun gut, wir flüchten auch - jedoch
wir wollen flüchten - ohne Not.
Sie mussten schlichtweg flüchten -
vor Elend, Hungersnot und Tod.
Für uns ist Flucht ein Flug.
Für sie war Flucht ein Fluch.
Du fragst, worin denn der bestand?
Schon darin, wie aus Afrika
die ersten auf die Inseln kamen.
Bedrängt, bedroht, verfolgt
von Völkern, die schon wussten,
wie man aus Eisen (Bronze) Schwerter schmiedet,
bestiegen sie die Boote -
nicht tauglich für die hohe See -
und suchten unbewohntes Land.
Dann kamen andere Völker.
Die schossen mit Gewehren.
und diesmal gab es keine Flucht,
nur Unterwerfung oder Tod
im aussichtslosen Kampf.
Noch später zwangen mehrfach
nach jahrelangen Dürren,
die Ernten, die sie nicht ernährten,
erneut mit Booten, nicht geeignet
zur Fahrt in eine neue Welt,
nach Venezuela und nach Kuba.
Und viele ihrer Söhne, Enkel
die flüchteten zurück,
aus Caracas und aus Havanna,
weil in der neuen Heimat
die Not inzwischen größer war
als in der alten ihrer Väter.
Und manche mussten - kaum zurückgekehrt -
schon wieder noch mal flüchten,
vor dem Vulkan, der ausbrach
und vor dem Wald, der brannte.
Und in den letzten Jahren
da flüchten wieder Menschen -
aus Afrika wie einst die ersten
(oft Fischer, denen Großfangflotten
die Lebensbasis raubten)
vor Not und Tod auf diese Inseln,
die "Inseln der Glückseligen"
Wir buchen einen Flug,
Wir flüchten vor der Kälte.
Nur das ist unsere Flucht.
Wie trivial, wie lächerlich banal.
Publiziert am: Samstag, 26. Oktober 2024 (31 mal gelesen)
Copyright © by Rudolfo Kithera
[ Zurück ]