Vernunftvoll, mittig, mittelmäßig
Ich mache manchmal mir von mir ein Bild.
Zwar weiß ich ja:
Ein Bild, das sich ein Mensch von einem Menschen macht,
ist immer einseitig - teilweise richtig und zum Teil auch falsch.
Nie stimmt es ganz, erfasst das Ganze.
Der Mensch ist Ebenbild des einen Gottes,
von dem man sich ein Bild nicht machen kann, nicht machen soll.
Manchmal jedoch missachte ich mein Wissen
und mache dennoch mir von mir ein Bild:
Wird jemand mal, wie ich gelebt hab', fragen,
werd ' ich wohl - Gott sei Dank und leider - sagen:
Ich sah und fühlte mich nicht oft verloren,
behielt im Kopf: "Stets wird ein neuer Tag geboren."
Ich wusste ja: "Es geht vorbei, es geht doch weiter.
Sei nicht sofort verzweifelt, bleibe heiter!
Sag' nicht "o weh" und rufe auch nicht "ach"!
Um zu ertrinken, ist der Bach zu flach."
Nur selten war ganz voll mein irdener Krug.
Rechtzeitig sagte ich: "Jetzt ist er voll genug."
Es floss nicht Wein noch Wasser über seinen Rand.
Und niemals fuhr ich gegen eine Wand.
(Denn Abstand hielt der wachsame Verstand.)
Ich hielt die Zügel schlaff, nicht straff gespannt.
Und vieles tat ich leicht mit linker Hand.
Ich ließ mir einen Freiraum, Luft nach oben.
Das Spiel war meistens nicht ganz aufgehoben.
Zu Anderen war ich fast nie unbedacht,
war jemand, der nur ungern Fehler macht.
Im Umgang war ich vorsichtig und zaghaft -
frei von der Leidenschaft, die notlos Leiden schafft.
Nur selten pochte laut und wild mein Herz.
Auch spannend blieb das Leben ernster Scherz.
Nur selten kochte heiß das wilde Blut.
"Es ist ja Wärme schön, doch Hitze tut nicht gut."
Ich setzte meinen Fuß noch nie in einen Puff,
lag nie im Dreck nach krassem Koma-Suff.
Ich lebte mittig maßvoll, nicht extrem, verrückt,
und wagte nur, was dann auch sicher glückt.
Ich brach nicht auf zu kühnem Abenteuer,
wich allem aus, was mir war nicht geheuer.
"Wer viel gewagt hat, hat oft viel verloren.
Nicht jeder ist zur Heldentat erkoren."
Ich war nicht dort, wo laut das Schicksal rief.
Es schrie nur dann, wenn ich gerade schlief.
Wo ich mich aufhielt, da war nichts gescheh' n.
Ich konnte später anderswo durch Trümmer geh' n.
Wenn sich Geschichte schrieb, dann war ich nicht dabei,
sah dabei zu, von außen, unbeteiligt, frei.
Vernunftvoll, maßvoll, mittelmäßig war, was ich gemacht.
Doch groß und mutig war, was ich gedacht.
Ich ließ es nicht nur über Oberflächen schweifen,
ich wollt' den Himmel stürmen und die Sterne streifen.
Und auch der Hölle Abgrundtiefen mied ich nicht,
fiel steil ins Dunkle und stieg auf zum Licht.
Für kühnes Denken möchte ich mir danken.
In ihm durchbrach ich manche engen Schranken.
Sieh bei mir nicht die Taten, sieh das Denken!
Das will ich gerne dir und anderen schenken.
Was ich erfand und fand, das will ich mit dir teilen,
und lad dich ein, mit mir dort zu verweilen.
Rudolfo meint,
dass Hartmut mit den nächsten Zeilen
sich eine Ausrede zurechtbastelt:
Ob dieser Widerspruch gilt für die meisten Leben?
Er ist durch unser Wesen ja fast vorgegeben.
Leicht ist das Denken, kann gewichtslos schweben.
Geist kann sich frei ins Grenzenlose heben.
Doch Körper-Handeln ist begrenzt in Raum und Zeit.
Wer hier nicht maßvoll bleibt, der schafft sich Leid.
Es gäbe gute Gründe, ein anderes Bild von mir zu malen:
Ich war gleichzeitig fanatisches Mitglied in einer indischen Sekte, beim Marxistischen Studentenbund Spartakus und in der farbentragenden (katholischen) Studentenverbindung Rappoltstein -
und hab' dort ja nicht nur gedacht, hab' dort ja auch gelebt, tat-kräftig mit-gemacht.
Und wenn das nicht verrückt ist, was ist dann verrückt?
Ich habe dann geheiratet, ein Haus gebaut, bin Vater von zwei Söhnen geworden, bin im Urlaub mit dem Auto nach Griechenlang gefahren und auf die Kanaren geflogen. Ganz normal - wie so viele Andere auch.
Ich bin nicht fünf mal geschieden, habe nicht in einer Kommune gelebt - in ständig wechselnden Beziehungen, auch nicht wie Diogenes in einer Tonne, weil jeder Besitz ja auch besetzt.
Ich bin nicht heimatlos als Abenteurer durch die Welt gewandert.
Ich habe auch nicht mein ganzes Hab und Gut verkauft, um vom Erlös das Leid der Armen und der Kranken zu lindern,
(wie es ja jeder in der Nachfolge Christi eigentlich tun müsste - siehe Mt19, 21-24).
Ich war die meiste Zeit kein Held,
war auch kein Heiliger.
Ich lebte "mittig" das "gesunde Mittelmaß" -
von einseitiger Größe nicht gefährdet.
Die hab' ich - wie so viele - nur gedacht;
Die meiste Zeit - doch nicht zu jeder Zeit.
Das Bild, vernünftig, "un-verrückt " gelebt zu haben,
stimmt schon drei Viertel -
doch es stimmt nicht ganz.
Nun, manchmal mach ich mir von mir noch andere Bilder:
Publiziert am: Montag, 07. Juni 2021 (785 mal gelesen)
Copyright © by Rudolfo Kithera
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