Das ganze Leben


 

Warum denn klammern sich so viele - krampfhaft -

an nur das halbe Leben, dieses hier?

Glauben sie auch nur halb?

Ich glaube doppelt an das Leben.

Nur doppelt ist das Leben ganz.

Ich glaube an das Leben vor dem Tod.

Ich glaube an das Leben nach dem Tod.

Beides gibt es.

Beides lohnt sich.

Beides ist Leben,

ist das ganze Leben.

 

Warum soll ich mich an das halbe klammern?

Ich sträube mich vielleicht gegen die Hälfte,

die noch wahrer, die noch schöner, die noch besser ist.






 

Botschafter Frankreichs in England


„Nein, Hartmut hatte keine Angst vor dem Tod.

Hartmut stand dem Tod gleichgültig gegenüber. Weder suchte er ihn, noch bemühte er sich, ihn zu vermeiden.

 



Er fühlte sich wie ein Diplomat, der als Botschafter Frankreichs nach England geschickt worden war. Manchmal überwog die Neugier, dann fand er das neue, fremde Land interessant und spannend. Es gab da vieles, was es in Frankreich einfach nicht gab. Manchmal fühlte er sich auch strafversetzt. Das andere Land war schön, doch es war nicht die Heimat. Aber er machte eben seinen Job, erfüllte seine Mission. Und er wusste: "Ich werde nicht für immer in England bleiben. Irgendwann werde ich zurückgerufen werden - nach Hause. Und ich werde dann nichts dagegen haben."

         Hartmut wunderte sich, dass er anscheinend mit dieser angstfreien Gelassenheit, mit diesem Gleichmut ziemlich alleine stand. Die meisten Menschen klammerten sich an das Leben. Sie sahen sich anscheinend nicht als französischer Botschafter in England, sondern als Engländer. Sie waren in England lebende Franzosen, die anscheinend schon so lange in England lebten, dass sie vergessen hatten, dass sie ursprünglich aus Frankreich stammten. Und wenn Frankreich sie zurückrief, sie nach Hause holen wollte, sträubten sie sich. Sie wehrten sich dagegen, ihre scheinbare Heimat verlassen zu müssen, die doch dar nicht ihre wirkliche Heimat war, in ein Land gehen zu müssen, das ihnen fremd geworden war oder das sie gar nicht mehr kannten.

         Menschen, die den Tod so sahen wie er, waren eine Ausnahme, eine Seltenheit. Eine berühmte Ausnahme war Sokrates gewesen, der vor seinem gerichtlich erzwungenen Ableben, einem Justizmord, seinen Schülern sagte: „Und vergesst nicht, dem Askleipios einen Hahn zu opfern!“ Das war so üblich bei den „alten“ Griechen, wenn sie nach einer schweren Krankheit endlich wieder gesund geworden waren.

         Dass Hartmut keine Angst vor dem Tod hatte, lag daran, dass er schon seit vielen Jahren ohne jeden Zweifel davon überzeugt war, dass es nach dem Tod weiterging, und zwar besser und schöner.

         Der Tod war für ihn nur der Durchgang durch ein Tor, wie er es einmal in seinem Gedicht  „Im Stadttor“  beschrieben hatte.

Also Hartmut hatte keine Angst vor dem Tod, weil er sie für völlig unbegründet hielt. Aber er hatte durchaus Angst vor dem Sterben, die ja nicht ganz unbegründet war. Das Land hinter dem Tor war verlockend und vielversprechend. Doch das Durchgehen durch das Tor konnte sehr ungemütlich sein, dunkel, nass und kalt.

(Entwurf für den Roman "Das Sabbat-Experiment")





 

Warum soll ich mich daran klammern, hier zu bleiben,

dagegen sträuben, von hier weg zu geh'n?

Wenn ich weg geh', komm ich doch nicht weg.

Wenn ich weg geh', komme ich doch weiter - und

ich komm doch wieder.




 

Publiziert am: Dienstag, 09. März 2021 (768 mal gelesen)
Copyright © by Rudolfo Kithera

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