Blick zurück im Frieden
Um dir, liebe Leserin, ein Beispiel zu geben, wie solch ein „Blick zurück im Frieden“ aussehen kann, füge ich einen Auszug aus meinem unveröffentlichten Roman „Das Sabbatexperiment“ an:
Wilfried lag auf der Couch im Wohnzimmer und nahm sich eine kleine Aus-Zeit. Der Abend würde noch lang werden. Es war sein Geburtstag, er wurde heute 65; Anlass, auf sein Leben zurückzublicken:
„Ich stehe als ältester Sohn zwischen einem anderen ältesten Sohn, meinem Vater, und meinem ältesten Sohn; zwischen „Dionys, dem Tyrannen“ und Robespierre, dem strengen Richter, der Köpfe rollen lässt; zwischen ihnen, unglücklich eingequetscht, ich, „Nathan der Weise“, „der Mann ohne Eigenschaften“, der Pontifex (nicht Maximus), der Brückenbauer, der getrennte Ufer verbindet, der Vermittler, der beide Seiten kennt, ein Pendler über die Grenze, die „Schweiz des Teams“, wie mich einmal einer meiner Chefs genannt hat, eine glatte Specksteinkugel zwischen Granitblöcken mit scharfen Ecken und Kanten, im Enneagramm (siehe Anmerkung) eine sich vor Schwierigkeiten drückende Neun zwischen einer herrsch- und rachsüchtigen Acht und einer selbstgerechten, rechthaberischen, besserwissenden Eins. Mein Name passt schon zu mir, Wilfried, „der den Frieden will“, mit aller Macht halten will, auch da, wo Frieden gar nicht stimmt, sondern Kampf, wo Frieden Unfrieden bedeutet. Und sein Vorname Siegfried passt auch zu meinem Vater, dem Offizier bei der Waffen-SS, der sich - wie die Römer - Frieden überhaupt nur vorstellen konnte, wenn er vorher Andere durch Macht besiegt hatte.
Weil ich anders sein wollte als mein Vater, ein anderer Vater, als Vater keine Macht ausüben wollte, habe ich geduldet, dass mein älterer Sohn sich diese Macht anmaßte, sie statt meiner ergriff - und oft missbrauchte (wenn man bei einem Kind, das von seinem Vater eben nicht lernen konnte, wie man angemessen mit Macht umgeht, überhaupt von Missbrauch der Macht reden kann), am meisten gegenüber seinem jüngeren Bruder, dem er bei jeder Gelegenheit die Show stahl, den ich nicht gegen die Angriffe und Übergriffe des Älteren geschützt habe. Weil ich keine Autorität sein wollte, gab ich meinen Söhnen keine Orientierung (außer durch das, was ich ihnen vorlebte), setzte ihnen keine Grenzen, förderte sie, ohne zu fordern. Wenn das Klischee stimmt ,Die Liebe der Mutter hat man, die Liebe des Vaters muss man sich verdienen’, dann haben meine Söhne zwei Mütter gehabt, aber keinen Vater.
Dadurch wäre mein jüngerer Sohn fast unter die Räder gekommen.
Dass er dann trotz meiner „Nicht-Erziehung“ doch noch die Kurve gekriegt hat, lag daran, dass das Leben mir meinen Erziehungsjob abgenommen hat.
Wenn man die Fehler der Eltern vermeiden will, macht man die umgekehrten.
Doch „Ende gut, alles gut“, dachte Wilfried. Ihm fiel ein Spruch ein, der mal als Spruch des Tages in der Zeitung stand: „Macht euch doch keine Gedanken darüber, dass eure Kinder nicht auf euch hören! Sie machen euch doch sowieso alles nach.“
„Anscheinend habe ich ihnen doch ein sinnvolles Leben vorgelebt“, dachte Wilfried. „Und das haben sie schließlich doch übernommen.“
Neben seinen Söhnen hatte Wilfried noch einen Bruder. Der war, obwohl er fünf Jahre jünger war, schon immer viel cleverer gewesen. Wilfried war von Geburt an stark kurzsichtig, was seine Eltern aber erst feststellten, als er in die Schule kam, daran, dass er ein Schild aus größerer Entfernung nicht lesen konnte. Wenn seine Mutter im Garten Ostereier versteckte, hatte sein Bruder schon alle weggeschnappt, bevor Wilfried auch nur eins gesehen hatte, so dass seine Mutter gezwungen war, für ihn ein paar eigene Eier zu verstecken. Onkel und Tanten sagten manchmal: „Der Wilfried, der wird einmal Professor, der Bertram, der macht einmal das große Geld.“
Als Kind war der kleine Bruder Wilfried manchmal auf die Nerven gegangen. Er wollte mit ihm spielen, aber Wilfried nicht mit ihm. Später, als Jugendlicher, hatte Wilfried ihm manchen Weg gebahnt und geebnet, hatte trotz seiner Neigung, Auseinandersetzungen zu vermeiden, notgedrungen die typischen Kämpfe um die Höhe des Taschengelds, lange Haare und vergammelte, zerrissene Jeans mit den Eltern ausgefochten, den Krieg, den der Jüngere gar nicht mehr führen musste, weil die Eltern inzwischen kampfmüde Frieden geschlossen hatten.
Das alles war lange her und bedeutungslos geworden. Die Zeit hatte ihm das Gewicht genommen. „Brecht hat Recht“, dachte Wilfried. „Wo sind die Tränen von gestern? Wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr?“ Seine Eltern waren inzwischen beide gestorben. Durch die Endgültigkeit des Todes waren seine Erlebnisse und Erfahrungen mit ihnen zu lebloser Vergangenheit erstarrt. Wilfried hatte doch schließlich im Laufe des Lebens vom Leben gelernt, dass Macht nicht nur eine „böse“, sondern auch eine „gute“ Seite hat, dass Macht, verantwortungsvoll eingesetzt, auch dem Leben dienen, Leben schützen kann. Die SS seines Vaters hätte ihre Gräueltaten gar nicht begehen können - jedenfalls nicht im Ausland - , wenn Frankreich und England den noch nicht aufgerüsteten Hitler bei seinen ersten unverschämten Grenzüberschreitungen sofort durch Kampf gestoppt hätten, anstatt sich vor der unangenehmen Auseinandersetzung zu drücken. Sein Vater war auch im Alter gar nicht mehr der gewalttätige Mann der früheren Jahre gewesen, sondern ein durch seine Enkel zur Milde erzogener liebevoller Opa. Und in seinen letzten Lebensjahren war er nicht einmal mehr der vor Gesundheit strotzende, starke, mitten im Leben stehende Mann aus Wilfrieds Kinder- und Jugendzeit gewesen, sondern ein hilfloses Häufchen Elend, ausgeliefert dem Krebs, einer Macht, der gegenüber er völlig machtlos war.
Nach dem Tod der Mutter, die den Vater sechs Jahre überlebte, hatte Wilfried die Erbangelegenheiten mit seinem Bruder in unvoreingenommener Fairness und unbefangener Selbstverständlichkeit regeln können. Seitdem gab es nichts mehr, was ihn zwangsweise an ihn band. Ab und zu sah er ihn, freiwillig, weil er inzwischen ganz gern mit ihm zu tun hatte, bewusst gewählt und gewollt. Es hatte sich in den letzten Jahren ergeben, dass seine Frau und er jedes Jahr ein paar Urlaubstage mit ihm und der Schwägerin verbrachten, und diese gemeinsamen Tage waren bisher alle heiter und unbeschwert gewesen.
Seine Söhne standen inzwischen beide auf eigenen Füßen und mit ihren Beinen mitten im Leben. Der Ältere, Julius, hatte geheiratet, eine Richterin am Amtsgericht, und hatte ihn vor drei Jahren zum Opa einer niedlichen, hübschen kleinen Enkelin gemacht. Auch der Jüngere, Daniel, hatte nach seinen Um- und Irrwegen inzwischen seine Ausbildung zum Heimerzieher abgeschlossen. Er zog zwar die Ungebundenheit des Single-Daseins der verpflichtenden, verbindlichen Nähe einer festen Partnerbeziehung vor, kümmerte sich aber mit großem Verantwortungsgefühl und rührender Fürsorge um die ihm anvertrauten Behinderten und um Arno, seinen großen Bernhardiner. Beide Söhne kamen ab und zu allein oder mit Anhang zu Besuch oder wurden von seiner Frau und ihm besucht, für Wilfried häufig genug. Und er freute sich, wenn sie zu ihm kamen und er zu ihnen, und er freute sich auch darüber, dass sie ja irgendwann auch wieder gingen und auch er irgendwann wieder gehen konnte. „Wenn ich ihnen gegenüber als Vater etwas versäumt habe, ist es jetzt nicht mehr nachzuholen“, dachte Wilfried. „Und anscheinend hat es sie ja nicht daran gehindert, insgesamt lebenstüchtige Menschen zu werden, die wissen, was sie wollen und was sie können.“
Seine Frau und er, das war übrig geblieben, das war noch wichtig. Das konnte noch gelebt, gestaltet werden. Das wollte er auch noch leben.
Wilfried griff nach dem Büchlein, das vor ihm auf dem niedrigen Glastisch lag, und schlug darin das Gedicht „Alles getan, alles gescheh’n“ auf, das sein Freund Rudolfo Kithera vor ein paar Jahren geschrieben hatte:
„Wenn alles gesagt ist und getan ist, gibt es nichts mehr zu bereu’n“ stand da.
Und
„Wenn ich weit das Ganze schaue, nicht Stückwerk mit beschränktem Blick, seh’ ich freudig auf mein Leben, sehe ich mit Dank zurück.“
Wilfried schlug den Gedichtband zu, und damit auch das Buch seiner Vergangenheit. Er stand auf. In einer Stunde würden die ersten Gäste da sein. Es war Zeit, den Sekt kalt zu stellen.
Publiziert am: Donnerstag, 08. Oktober 2020 (930 mal gelesen)
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