Tun und Lassen

 

 

Der folgende Entwurf, lieber Leser, ist noch unausgereift, ungereimt, unfertig, widerspricht sich und verspricht dir, was er nicht hält. Ich bitte um Nachsicht für diese Unvollkommenheit. Ich stelle ihn dir trotzdem schon vor, weil er einige lesenswerte, sprachlich schöne und inhaltlich interessante Abschnitte enthält.

 

 

Der Tanz auf dem Seil

 

In seinen Texten konnte Hartmut in der Mitte bleiben. Er konnte auf dem Seil tanzen. Doch in seinem Leben konnte Hartmut nicht sein Gleichgewicht halten. Bei dem Bemühen, nicht auf der einen Seite vom Seil zu fallen, stürzte er auf der anderen Seite ab.

 

Andere Menschen fallen genauso vom Seil. Das Seil ist ja für alle Menschen dasselbe. Doch sie wissen gar nicht, dass sie auf dem Seil tanzen. Deshalb versuchen sie auch gar nicht, oben zu bleiben. Sie fallen runter und klettern wieder rauf. So wie Hartmut. Sie fallen genauso oft. Sie fallen genauso tief. Doch sie finden das ganz normal. Sie denken sich nichts dabei. Sie klettern eben wieder rauf. Ganz normal.

Wenn ein Mensch weiß, dass er auf dem Seil tanzt, wenn er oben bleiben will, nimmt er es sich übel, dass er runter fällt. Er fällt  nicht öfter. Doch es fühlt sich öfter an. Er fällt nicht tiefer. Doch es fühlt sich tiefer an.

 

Manchmal ist es kein Vorteil, ein Wissender zu sein. Wenn man ein Wissender ist, jedoch kein Weiser. Wenn man etwas weiß, aber nicht genug, nicht alles, was man wissen muss. Dann verliert man - erst einmal - durch Wissen nur seine unbekümmerte Unbefangenheit, selbstverständliche Natürlichkeit. Doch die Notwendigkeit, uns höher zu entwickeln, lässt uns keine Wahl. Wir können nicht in der Naivität des Kindes bleiben, das ohne Fragen einfach lebt. Nur durch die Zweifel des Erwachsenen kommen wir zum gelassenen Frieden des alten Weisen.“

 

„ Sie wollen natürlich wissen, was denn Hartmuts Seil war. Es war das Gleichgewicht zwischen Handeln und Nicht-Handeln. Das zu finden und zu halten ist einer der schwierigsten Seiltänze. Die meisten Menschen versuchen das erst gar nicht, fallen eben mal auf der einen, mal auf der anderen Seite vom Seil runter, ohne sich darüber groß „einen Kopf zu machen.“ Oder sie laufen einfach unter dem Seil, auf dem Boden, mal auf der einen, mal auf der anderen Seite. Das richtige Maß von Tätigsein und Ausruhen zu finden, ist für sie gar kein Thema. Sie tanzen nicht auf diesem Stück des Seils. Sie haben ein anderes Thema. Vielleicht  haben sie Schwierigkeiten damit, unabhängig zu sein und doch bezogen auf andere. Oder es fällt ihnen schwer, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Einklang zu bringen. Sie tanzen auf einem anderen Abschnitt des Seils.



 

 

 

Medizinmann, nicht Häuptling

Auch Hartmut hatte natürlich wichtige Lebensaspekte, bei denen er gar nicht erst versuchte, auf dem Seil zu tanzen, bei denen er einfach unten auf dem Boden lief, auf einer Seite, oben vom Seil aus gesehen; bei denen es ihm gleichgültig war, dass das natürlich einseitig war, ein Ungleichgewicht; bei denen er sich gar nicht bemühte, das Gleichgewicht zu finden.

 

Das war der wichtige Lebensaspekt von Macht, Verantwortung (der anderen Seite von Macht) und der damit eng verbundenen Konkurrenz. Wenn man sie nicht einfach erbt oder sie aufgedrängt wird, kommt man gewöhnlich nur durch Konkurrenz zu Macht und Verantwortung, hält sich nur durch Konkurrenz an der Macht und in Verantwortung.

 

Hartmut war durch und durch Anarchist. Er lehnte Macht ab, sowohl die Macht anderer über ihn als auch eigene Macht über andere. Und auch die Macht anderer über andere. Er konnte nichts Gutes darin erkennen, dass Menschen anderen Menschen gehorchen, dass Menschen anderen Menschen befehlen. Und er hatte in seinem ganzen Leben nur selten mit Macht, Verantwortung und Konkurrenz zu tun. Zum einen dadurch, dass das Schicksal ihn nicht dazu zwang, sich mit diesen Themen auseinander zu setzen. Und wo er doch mit dem Spiel der Macht konfrontiert wurde, weigerte er sich, mit zu spielen, wich geschickt aus, unterlief oder sabotierte es.

 

Er hatte zwar den Ortsverband der Grünen in Wesel mit gegründet, doch die Idee, ihn zu gründen, war nicht von ihm gekommen. Er war von dem, der die Idee hatte, als einer der ersten gefragt worden, ob er mit macht. Aber er war nicht der erste. Nun gut, Adolf Hitler war auch zuerst nur Parteimitglied Nr. 7 der NSDAP, nicht der Parteigründer. Aber er hat sich dann ziemlich schnell an die Spitze gesetzt. Hartmut jedoch hatte nicht das geringste Interesse daran, erster zu werden. Er war damit  das genaue Gegenstück zu Julius Caesar, der ja mal gesagt haben soll: „Lieber bin ich der erste in einem Alpendorf als der Zweite in Rom.“ An dem Punkt, an dem Hartmut gemerkt hätte, dass er seine Ellenbogen benutzen müsste, um Konkurrenten auszuschalten und nieder zu halten, wäre er vermutlich angewidert aus dem Spiel ausgestiegen. Dazu hätte er überhaupt keine Lust gehabt.

 

Hartmut drängte nicht darauf, Alpha-Rollen zu übernehmen. Die Verantwortung, andere Menschen zu führen, die damit verbundene Last auf den Schultern, überließ er gerne anderen. Er war nicht gerne erster. Er war gerne bereit, zweiter zu sein, die rechte Hand, der Stellvertreter, der Berater des Ersten. Und diese Beta-Rollen spielte er auch gut. Sie waren mit wenig Druck verbunden. Wenn etwas schief lief, musste ja der Erste den Kopf dafür hin halten.

 

Am liebsten lebte er da, wo es gar keine Rangreihe gab, in die man sich einordnen musste, wo Führen und Folgen keine Rolle spielten; z. B. in einer „Ich-AG“ als freiberuflicher Psychotherapeut. Und auch hier hatte er nicht selbst eine neue Praxis aufgebaut, sondern war in eine schon bestehende eingestiegen.

 

 

 

Auseinandersetzungen ging er nur ein, wenn sie keinen ernsthaften Aufwand erforderten, ein Spiel der Leichtigkeit darstellten, das er mit der linken Hand erledigen konnte. Das Tot-Schlagen einer Fliege ist ja keine Auseinandersetzung mit der Fliege.

Wobei auch dieses Beispiel hinkt: Hartmut scheute auch davor zurück, eine Fliege tot zu schlagen. Er vermied es, einem Wesen unnötig Schaden zu zufügen. Und aus einem ausgeprägten Sinn für Fairness heraus vermied er es, Macht gegenüber Schwächeren auszuüben, eine überlegene Position gegenüber Unterlegenen auszunutzen. Er weigerte sich sogar, das zu tun, wo es seine Verantwortung war, es von ihm gefordert wurde, z. B. wenn er in der Drogenklinik nach Regelverstößen seine Patienten bestrafen musste. Er nutzte den Ermessensspielraum, den er hatte, immer dafür, die möglichst niedrigste Strafe zu verhängen. Die Drogenabhängigen freuten sich, wenn er die „Sanktionsgruppe“ leitete, nicht einer seiner strengeren Kollegen. Jeder wusste, dass er eine „Taube“ war, kein „Falke“.

Er war nicht gerne Richter, fällte nicht gerne Urteile. Und er lehnte es ab, ein Staatsanwalt zu sein, anzuklagen, um zu verurteilen..

 

Hartmut war jedoch ein guter Rechtsanwalt. Er vermied Auseinandersetzung nur, wenn es um ihn ging, um seine persönlichen Interessen und Bedürfnisse. Für andere konnte er sich gut einsetzen, besonders, wenn er den Auftrag dazu hatte. Er hatte sich in der Fachschaft Psychologie mit Professoren rum gestritten, als Teamsprecher Leitungen abgesetzt oder vom Arbeitgeber gefordert, eine Leitung zu entlassen. Das Vermeiden von Auseinandersetzung war bei ihm nur der unmittelbare erste Impuls, der sich sofort auflöste, sobald er von einer damit unvereinbaren Idee überlagert wurde.

 

Daher konnte Hartmut auch gut seine Patienten dazu ermutigen, einen anstehenden Konflikt auszutragen, sich für ihre Belange einzusetzen, damit das zu tun, wozu er selbst gar keine Lust hatte. Er war nicht auf die welt gekommen, um sich in ihr zum Kampf zu stellen, doch er stellte sich hinter die und stand hinter denen, die das tat-kräftig taten. Und er muss wohl in dieser Rolle des unterstützenden, das Selbstvertrauen stärkenden Beraters glaubwürdig, authentisch Einsatz- und Kampfbereitschaft verkörpert haben. Er hat in den mehr als 20 Jahren seiner Tätigkeit als Psychotherapeut so viele Frauen darin unterstützt, sich nicht mehr von ihren Männern tyrannisieren zu lassen, dass er sich um die Frauenemanzipation in Xanten und Umgebung mehr verdient gemacht hat als jede Organisation, die die Gleichberechtigung auf ihre Fahnen geschrieben hatte.    

 

Hartmut vermied es, sich für eine Seite zu entscheiden. Am liebsten hielt er sich raus. Die positive Seite daran war, dass er oft beide Seiten sehen, neutral, unparteiisch oder „allparteilich“ bleiben konnte. Als Diplomat und Schiedsmann wäre er ein Naturtalent gewesen.

 

Zwischen Hartmut und seiner Frau hatte sich folgendes Ritual entwickelt:

 

Hartmuts Frau: „Ärger mir die Leute nicht!“

Hartmut: „Ich ärger sie doch nie. Ich langweile sie doch nur.“

 

Irgendwann nahm dieser Dialog folgende Form an:

 

Hartmuts Frau: „Ärger mir die Leute nicht!“
Hartmut: „Dazu sag’ ich jetzt nichts mehr.“

Hartmuts Frau: „Ich muss dir das trotzdem immer wieder sagen.“

Hartmut: „Du musst doch keinem Fisch sagen,

dass er nicht durch die Luft fliegen soll.“

 

Ärgern war für Hartmut so fremd wie für einen Fisch das Fliegen.

Sein Aikido-Grossmeister Yoshigasaki stellte einmal auf einem Seminar die Frage: "Was ist Respekt?" Und als er keine befriedigende Antwort bekam, gab er sich die Antwort selber: "andere nicht unnötig zu stören." Diese Definition von Respekt hätte auch von Hartmut stammen können. Er hatte einen sicheren Instinkt dafür, was andere stören könnte, vermied automatisch alles, was für sie unangenehm sein könnte, die Harmonie trüben könnte. Und er fand es fast nie nötig, andere zu stören, nur da, wo die Rolle, die er in der betreffenden Situation spielte, das altindische Dharma, ihn dazu zwang, ihm keine Wahl ließ.


Hartmut Haupthaltung war, mit Gelassenheit zu lassen. Er konnte andere das machen lassen, was sie machten, konnte das, was sie sagten, stehen lassen, konnte sie auch gut gehen lassen. Seine Haupttugend war, keinen Druck zu machen. Doch jede Münze hat auch eine andere Seite: Er neigte zwar nicht dazu, andere fallen zu lassen, im Stich zu lassen, doch durchaus dazu, Auseinandersetzung zu unterlassen. Sein Hauptlaster war, sich zu drücken.

Und ich werde Ihnen später - wenn wir zu seinem Seiltanz zurückgekehrt sind -  erzählen, wie aus der Haltung, andere ihren Weg gehen zu lassen, sich gehen lassen wurde und aus Gelassenheit lasche Lässigkeit.




 

Ich möchte dir, lieber Leser, noch einen zweiten Entwurf für diesen Abschnitt vorstellen. Es ist mir nicht gelungen, beide Fassungen ohne Bruchstellen ineinander zu schieben. Und ich fände es schade, die folgende Variante einfach weg zu lassen:




 

Hartmut hatte die Stärken eines Medizinmanns, nicht die eines Häuptlings. Er wollte ein weites Bewusstsein, nicht eine starke Persönlichkeit sein.

Er wollte gekannt sein als Kenner, nicht als Könner. Er wollte ein souverän Wissender, nicht ein souverän Handelnder sein: ein Rabbi und Druide, ein Schrift- und Heilkundiger, Gelehrter und Lehrer; kein Ordnungshüter und Räuberhauptmann (Bandenchef), Staatslenker und Wirtschaftsführer. Dabei lag ihm auch gar nichts daran, ein überlegen Wissender zu sein, der eine und einzige Medizinmann seines Stammes, herausgehoben und überragend über alle anderen. Es ging ihm nicht darum, mehr zu wissen als andere. Sich mit anderen zu vergleichen, lag ihm ja generell fern.

 

Als er doch mal Häuptling wurde, gingen zwei Dörfer unter seiner Häuptlingsschaft zugrunde, haben sich von ihr nicht mehr erholt. Das waren allerdings „Jugendsünden“ gewesen.

 

Es gibt „Jugendsünden“ und es gibt „Alterssünden“.

Die Jugendsünden bestehen darin, dass ich zu unvernünftig bin, deshalb etwas tue, was ich besser ließe.

Die Alterssünden bestehen darin, dass ich zu vernünftig bin, daher etwas (unter)lasse, was ich besser (noch) täte.

Es gibt Menschen, die begehen schon in ihrer Jugend Alterssünden.

Und es gibt Menschen, die begehen noch im Alter Jugendsünden.

Hartmut gehörte eher zu den ersten: Als er dafür noch nicht alt genug war, hörte er auf, Jugendsünden zu begehen; und er fing an, Alterssünden zu begehen, als er noch zu jung dafür war.
 

 

 

 

 

Nur wenige Menschen sind Vollmenschen, genauso Menschen der Tat wie des Wissens. Hartmut war es nicht. Er wollte es auch gar nicht werden. Und er hat sich selbst getötet, um ich zu werden, bevor er Vollmensch geworden war."

 

 

„Sie wundern sich, dass das möglich ist. Doch, das geht durchaus.

Sehen Sie, ich bin ja als Ich-Bin gewissermaßen eine Weiterentwicklung von Hartmut, Hartmut auf einer höheren Stufe. Nun muss ein Mensch eine Entwicklungsstufe nicht voll verwirklicht haben, um zur nächst höheren aufsteigen zu können. Es genügt, dass er in ihr stark genug geworden ist, um bereit zu sein, sie hinter sich zu lassen, auf dieser Stufe zu sterben. Saulus war auch kein Vollmensch, als ihm das Große Ich-Bin vor Damaskus erschien, mit seinem Licht beschien, „erleuchtete“ und ihn so zu Paulus machte.“

„Sie bezweifeln, dass Paulus danach erleuchtet war; vielleicht zu Recht. Doch er konnte danach sagen: „nicht ich, sondern Christus in mir.“ Das ist Erleuchtung genug. Und dieses Ich, das er nicht mehr war, war dennoch immer noch kein Vollmensch. "

 

 

 

 

 

 

 

Hartmut wollte ein „Talent sein, das sich in der Stille bildet, nicht ein Charakter, der sich formt im Strom der Welt“. Kommen Ihnen die Worte bekannt vor? " „Klar, das ist frei nach Goethe. Er wollte gar kein Charakter sein. „Jeder Charakter ist ein schlechter Charakter“, war seine Überzeugung. Jeder Charakter war für ihn eine einseitige Festlegung auf eine bestimmte Haltung, eine Einschränkung seiner Möglichkeiten. Er liebte die „Haltung der Nicht-Haltung“. Er wollte ein „Mann ohne Eigenschaften“ sein und war es auch weitgehend.

Dabei störte ihn merkwürdigerweise gar nicht, dass er ja Einseitigkeit gar nicht vermeiden konnte, weil er durchaus einseitig war. Er war kein aner polytropos, kein viel-gewandter Mann wie Odysseus, der klug, schlau und listig war, sich aber auch selbst ein Floß bauen und als Einziger seinen Bogen spannen konnte.  Hartmut war ein Mund-Werker. Als Handwerker war er eine Niete, und auch seine „Körperkünste“ waren begrenzt.

 

Auf dem Gymnasium - dem humanistischen altsprachlichen Gymnasium mit neusprachlichem Zweig, auf dem der neusprachliche längst der den Baum bestimmende Hauptzweig geworden war - hatte er nur deshalb in Sport eine „Gnadendrei“ bekommen, weil sein Sportlehrer auch sein Geschichtslehrer war – in Geschichte war Hartmut ja ein „As“ - , und der ihm nicht den Notendurchschnitt im Abiturzeugnis verderben wollte.

 

Einige „Körperkünste“, wie Schwimmen und Radfahren hatte Hartmut wegen einer Mischung aus Ängstlichkeit und Ungeschicktheit erst spät gelernt, erst dann, als die meisten gleichaltrigen Kinder es schon konnten. Als es in der Quinta Schulschwimmen gab, tummelten sich die meisten Mitschüler natürlich schon im großen Becken für Schwimmer. Nur Hartmut drückte sich mit einigen wenigen ebenfalls „zurückgebliebenen“ anderen im kleinen Nichtschwimmerbecken herum.

Später hat es Hartmut in 17 Jahren Aikidotraining nur bis zum 3. Kyu (Schülergrad) geschafft. Viele, die nach ihm anfingen, zogen an ihm vorbei, machten den 2. und 1. Kyu oder sogar den 1. Dan.  Viele  davon hörten jedoch auch vor ihm wieder auf.

 

Hartmut war allerdings ein guter Tänzer. Was er tanzte, war fast immer exakt im Takt und Rhythmus. Er hatte anscheinend ein sicheres Gefühl für Rhythmen, sowohl Sprach- als auch Körperrhythmen.

 

Und er war ein ausdauernder Läufer und begeisterter Wanderer.

Auch als er später dem Nichts-Tun „anhaftete“, wurde er nicht fuß-faul. Auch nicht mund-faul. Er wurde hand-faul und kopf-faul."



"Sie meinen, die ganzen Gedanken zur Akzeptanz und zum Nicht-Kämpfen hätten Hartmut also nur dazu gedient, seinen eigenen "Nicht-Charakter" schön zu reden und sein Sich-Drücken vor Verantwortung zu rechtfertigen?

Das glaubte Hartmut in der Zeit seiner Verirrung auch. Und er fing an, das, was er vorher als Weisheit geschätzt hatte, als Schwäche zu verachten. Er fing an, die Wahrheit anzuzweifeln.

Doch "das Nicht-Kämpfen ist das grundlegende Prinzip des Universums." (Koichi Tohei)

Und ein Goldschatz bleibt ein Goldschatz, unabhängig davon, wie und von wem er gefunden wird. Er bleibt das, was er ist, auch wenn ein Mörder ihn findet, als er einen Leiche vergraben will. Vielleicht kann der Mörder ihn nicht bergen, weil die Polizei ihm schon dicht auf den Fersen ist. Doch ein anderer, der das offene Loch findet, kann es schon.

Egal, was Hartmut war - ob ein Mörder, ob ein Heiliger, ob ein Heiliger und Mörder, ob weder Heiliger noch Mörder -

heben Sie den Schatz, den Hartmut frei geschaufelt hat." 

 

 

 

"Sie können sich nur schwer vorstellen, dass ein Mensch Heiliger und Mörder sein kann. Ja, bei Hartmut kann ich mir das auch schwer vorstellen; wobei ihm mehr die Begabung zum Mörder fehlte als zum Heiligen.

Doch wer nicht versteht, dass ein Heiliger auch ein Mörder sein kann, dass auch im Mörder schon der Heilige lebt,

kann auch nicht sehen, dass auch benutztes Klopapier der Buddha ist."

 

 

 







 

Sich kein Bild machen

 

 

Das, was ich Ihnen gerade erzählt habe, ist natürlich aus der Perspektive des wahren Wissens höchst problematisch. Wenn ein Ich-Bin in der Lage wäre, sich zu schämen, müsste ich mich jetzt schämen für das, was ich gesagt habe. Es ist allerdings etwas, was Egos ständig tun. Sie versuchen, sich ein Bild von einem Menschen zu machen, von Anderen und von sich selbst. Doch das widerspricht dem „Bilderverbot“ der Bibel: „Du sollst dir kein Bild machen von Gott, deinem Herrn!“

Bei Gott ist das ja auch einleuchtend. Es ist ja abwegig, sich Gott als alten Mann mit Bart vor zu stellen. Gott ist - in einer bestimmten Auffassung, z.B. bei Aristoteles  -  der, der alles in Bewegung bringt, das jedoch nur kann, weil er selber unbewegt ist. Er ist ja auch der Schöpfer aller Formen, der Gestalter aller Gestalten. Auch das kann er natürlich nur sein, wenn er selber un-gestaltet ist, keine Gestalt hat. Es ist also nahe liegend, sich Gott nicht in irgendeiner Gestalt vor zu stellen. Jede Form, die ich ihm gäbe, jedes Bild, das ich mir von ihm machen würde, wäre ja falsch und irreführend.

 

Für Gott wäre das zwar völlig gleichgültig. Er bleibt ja das, was er ist, unabhängig davon, ob ich ihn richtig oder falsch sehe. Deshalb ist es ja völlig irrsinnig, von Gotteslästerung zu sprechen und daraus sogar ein Vergehen zu machen, worauf die Todesstrafe steht. Gott kann ich gar nicht lästern, ihn belästigen und belasten.  Ich schade mit einer falschen Gottesvorstellung nicht ihm, sondern höchstens mir. Wenn ich mir ein falsches Bild von ihm mache, und jedes Bild von ihm muss ja notwendig falsch sein, erschwere ich mir vielleicht den Zugang, den Weg zu ihm. Gott ist immer noch da und wartet auf mich, als formloser Geist, aber ich kann ihn nicht mehr erreichen. Und wenn ich ihn erreiche, erkenne ich ihn nicht, weil ich ihn mir anders vorstelle, und laufe weiter, an ihm vorbei.

 

Es ist also „alternativlos“, sich Gott als formlosen Geist vorzustellen, ihm keine bestimmte Form zu geben. Die sogenannte  „negative Theologie“ geht diesen Weg mit letzter Konsequenz zu Ende: Sie weigert sich sogar, Gott irgendwelche Attribute, Eigenschaften zu zuschreiben wie allmächtig, barmherzig, gerecht u. s. w.

 

Doch das, was für Gott gilt, gilt ja auch für den Menschen, für jeden Menschen. Denn der Mensch ist ja als Gottes Ebenbild geschaffen worden. Auch er ist seinem Wesen nach formloser Geist. Alle Ich-Bins wissen das auch. Aber ein Ego, das ja kein Ich-Bin mehr sein will, hat das natürlich vergessen. Das Ego will und muss sich eine bestimmte Form geben, sich ein Bild von sich selbst und den anderen Egos machen. Es kann nur als Bild überleben, muss  sich von den anderen Egos unterscheiden, sich Bilder von sich und anderen machen, die natürlich wie jedes Gottesbild immer falsch sind. Es muss sich und andere charakterisieren, muss Ihnen bestimmte Eigenschaften zuschreiben und andere Eigenschaften absprechen.


 

Dass das für ein Ich-Bin undenkbar ist, ist ja völlig klar. Ich will Ihnen aber mal zeigen, dass das sogar auf der Ebene der Unwissenheit ungünstig, sogar für ein Ego schädlich ist: Anhand einer Geschichte, die eine Patientin Hartmut erzählt hatte, die er dann manchmal anderen Patienten erzählte:

 

Die Patientin hatte einen Nebenjob als Badeaufsicht in einem Schwimmbad übernommen und hatte damit auch die Aufgabe, darauf zu achten, dass alle die ,,Spielregeln" einhielten. Nun war sie einen Moment nicht geistesgegenwärtig, passte nicht auf und sah nicht rechtzeitig, dass ein Junge gerade unerlaubterweise vom Beckenrand ins Wasser springen wollte, so dass sie es nicht verhindern konnte. Bei diesem Regelverstoß passierte weiter nichts, es hatte keine Auswirkungen. Der Junge war niemandem auf den Kopf gesprungen, er hatte noch nicht einmal jemanden nass gespritzt.

Sie hätte sich sagen können: „Gut, da hab‘ ich einen Augenblick lang nicht aufgepasst, hab‘ einen Fehler gemacht. Gott sei Dank hatte der ja keine Konsequenzen. Aber dennoch. Etwas Falsches zu machen, ist einfach falsch, auch ohne Konsequenzen. Ich will ab jetzt noch besser aufpassen.“

Dann wäre sie in der Situation geblieben.

Statt dessen fielen ihr alle möglichen Situationen ein, in denen sie auch nicht aufgepasst hatte. Dass es auch viele Situationen gegeben hatte, in denen sie durchaus wachsam und aufmerksam gewesen war, dass solche Erfahrungen sogar bei weitem überwogen, sah sie nicht mehr, blendete sie aus. Sie konstruierte aus dieser einseitigen, verzerrten Auswahl von Erfahrungen eine überdauernde Eigenschaft, die sie sich zuschrieb: „Ich passe ja nie auf. Ich bin eine weltfremde Träumerin.“

Eine solche Eigenschaft ist die erste Stufe einer ungünstigen verfälschenden Verallgemeinerungstreppe.

Doch auf dieser ersten Stufe blieb sie nicht stehen, sondern stieg von ihr weiter zu einer zweiten ab. Das passiert auch vielen anderen, passiert auch oft. Wenn man bei sich schon einmal eine Eigenschaft sieht, die man negativ bewertet, sieht man schnell zusätzlich auch jede Menge anderer ebenfalls ungünstiger Eigenschaften, wobei man natürlich wieder die vielen und sogar überwiegenden positiven, seine Fähigkeiten und Stärken, ausblendet.

Sie sah sich nicht nur als weltfremde Träumerin, sondern fand sich auch noch strohdoof und potthässlich (was auch beides nicht berechtigt war).

Das ist die zweite Stufe der verfälschenden Verallgemeinerungstreppe:

Man konstruiert ein Selbstbild, in dem man sich selbst als ganze Person ablehnt und abwertet, fragt sich, ob man überhaupt eine Existenzberechtigung hat oder sich doch besser möglichst schnell selbst umbringt.  


 

Rudolf Steiner, einer der großen menschlichen Ich-Bins, liebte ja das Definieren nicht. Er zog es vor, zu charakterisieren. Das ist auch gegenüber Steinen und Pflanzen, gewissermaßen auch noch gegenüber Tieren, durchaus angemessen. Doch den Charakter eines Menschen charakterisieren zu wollen, ist nicht angemessen, sondern eine Anmaßung. Das Wesentliche, das Wesen eines Menschen kann kein Mensch in Worte fassen, kein Anderer und er selber auch nicht. Weder von mir selbst noch von Anderen kann ich mir ein unverzerrtes umfassendes Bild machen. Bei einem anderen Menschen können wir nur Äußeres, Äußerlichkeiten beurteilen, seinen in der Außenwelt wirkenden Körper, sein sichtbares äußeres Verhalten. Die Innenwelt eines Anderen können wir nicht durchschauen. Dafür reicht unsere Urteilskraft nicht aus. Und nur ein Mensch, der vollkommen frei von Selbsttäuschung und Selbstbetrug ist, und das ist nur ein "Vollkommener", kann sich selbst so sehen, wie er wirklich ist. Versuchen Sie deshalb nicht, einen Menschen zu charakterisieren. Beschränken Sie sich darauf, ihn zu „präsenzisieren“, ihn zu "situationieren", zu erkennen, was er in der Situation tut, in der Sie ihn wahrnehmen, in der gemeinsamen, verbindenden Gegenwart! Ziehen Sie daraus keine Schlüsse, was er gestern getan hat, was er morgen tun wird. Bemühen Sie sich nicht, zu verstehen, warum er es tut, wozu er es tut. Das können Sie nicht wissen. Das Einzige, was Sie wissen, ist, dass er es tut und wie er es tut. Konstruieren Sie keine dauerhaften Bilder! Denn die sind notwendig einseitig und unvollständig.

 

Ihnen fällt dazu Hartmuts Gedicht „Wenn du mir etwas sagst“ ein.

Klar, das passt dazu. Und natürlich die vielen Texte, die er zum Nicht-Urteilen geschrieben hat.

 

 

 

 

Wenn Sie überhaupt etwas beurteilen wollen, dann nur Situationen. Machen sie sich darüber hinaus kein Bild von Personen, denen sie überdauernde Eigenschaften zuschreiben. Es gibt nur Situationen und in diesen Situationen gegenwärtig tätige, von festlegenden und einschränkenden Eigenschaften freie Ich-Bins. Alles, was darüber hinaus geht, sind Fehlkonstruktionen, die es nicht gibt.

Ein "Charakterbild" ist eine Vorstellung, kein Begriff. Wir können einen Menschen nicht begreifen. Und es gilt von einem solchen Bild, was für jede Vorstellung gilt: Wenn ich mir vorstelle, sie sei die Wirklichkeit, stelle ich mir etwas vor die Wirklichkeit.

 


 

 

Das stellt natürlich nicht, wie im Judentum, dem Islam und zur Zeit des Bildersturms auch im christlichen Byzanz, jede bildliche Darstellung von Gott und Mensch in der Kunst in Frage. Es wäre ja schade, wenn Michelangelo die „Erschaffung Adams“ nicht gemalt hätte. Aber es ist natürlich wichtig, nicht zu vergessen, dass damit eine künstliche Realität geschaffen wird, die es in Wirklichkeit nicht gibt, dass Gott nicht so aussieht, dass er überhaupt nicht irgendwie aussieht, gar nicht aussehen kann.

 

Auch was ich Ihnen von Hartmut erzählt habe, nehmen Sie es wie ein Gemälde, eine harmonisch gestaltete Fläche! Wenn es Ihnen gefällt, hängen Sie es an die Wand! Aber vergessen Sie nicht: Es ist ein Bild, das nicht die Wirklichkeit abbildet! Es ist Kunst, eine künstliche Wirklichkeit, eine eigene Wirklichkeit in sich selber.

 








Der Tanz auf dem Seil II

 

Aber Sie wollen natürlich endlich mehr darüber erfahren, was Hartmuts Seiltanz war: Das Gleichgewicht zu finden zwischen Wahrnehmung (Nicht-Handeln) und Handeln. Das war für ihn ein Thema, das sich wie ein roter Faden durch sein Leben zog. Schon in seiner ersten Therapieausbildung sagte sein Ausbilder (Klaus Lumma) einmal zu ihm:

„Wenn du was siehst, tust du nichts mehr.

Wenn du was tust, siehst du nichts mehr.“

Wahrnehmen und Handeln schalteten sich ab, schlossen sich gegenseitig aus.

Er neigte dazu, blind vorwärts zu stürmen oder beschaulich untätig zu sein.

 

 

Sowohl diese Schwierigkeit als auch ihre Auflösung, die Frage wie die Antwort, sind ja genial verdichtet in einem Vers der Bhagavad-Gita, der einer von Hartmuts Lieblingsversen war:

 

You have control over action alone,

never over its fruits.

Live not for the fruits of action,

nor attach yourself to inaction!

 

Du hast Kontrolle nur über dein Handeln,

niemals über dessen Früchte.                                       

Lebe nicht für die Früchte des Handelns,

noch hafte am Nicht-Handeln!

(Bhagavad-Gita II, 47)

 

 

 

 

In der jüdisch-christlichen Kultur wird ja nahe gelegt, die beiden Pole abwechselnd zu leben als Arbeit und Urlaub, Werktage und Sabbat (Sonntag), Arbeitsstunden und Feierabend. Und auch die Römer kannten den Unterschied von otium, Muße und neg-otium, „Nicht-Muße“, Pflicht.

Man läuft unten auf dem Boden, mal links, mal rechts vom Seil.
 

Hartmut dagegen wollte auf dem Seil tanzen.

Sein Anspruch bestand darin, beide Seiten ineinander zu schieben, sie gleichzeitig zu leben:

Ganzherzig mit Einsatz aller Kräfte zu wollen, doch nicht, um damit etwas zu erreichen, als Mittel zum Zweck; sondern statt dessen das gegenwärtige Handeln selbst zu wollen, als Selbst-Zweck, mit aller Macht das zu wollen, worüber er allein und ausschließlich Macht hatte, sein eigenes Handeln. Der Erfolg, „die Früchte des Handelns“, hingen ja nicht von ihm allein ab, standen nur bedingt und begrenzt in seiner Macht. Und da dieses Handeln ja sich selbst zum Ziel hatte, ruhte dieses Handeln gewissermaßen in sich selbst, war gleichzeitig Nicht-Handeln. Sein Ideal war, "Handeln im Nicht-Handeln und Nicht-Handeln im Handeln“ (Bhagavad-Gita...) zu leben. Er wollte stehend geh’ n und gehend steh’ n.

 

Das wäre der Tanz auf dem Seil gewesen, das absichtslose Handeln des Zen, das „yogastah kuru karmani“ der Bhagavad-Gita:

„Fest stehend in der Einheit, begehe deine Taten!“

(Bhagavad-Gita II, 48)

 

Doch bei dem Bemühen, sich nicht mehr mit den Zielen des Handelns zu verhaften, nicht mehr an das Ergebnis, den Erfolg zu binden, nicht auf der einen Seite vom Seil zu fallen, verhaftete sich Hartmut an das Nicht-Handeln, fiel auf der anderen Seite runter.





Anhaftung an das Nicht-Handeln

 

 

 

Er entwickelte eine Neigung zum angenehmen Nichts-Tun, zum ,,Dolce far niente". Er erlebte das Handeln immer mehr als lästigen Zwang, als etwas, was er tun musste. Und etwas tun zu müssen, störte seine Ruhe, störte seinen „glückseligen“ Frieden, aus dem er nicht rausgerissen werden wollte.

 

 

Sein Wahlspruch wurde immer mehr:

„Ein gutes Pferd springt nicht höher als es muss.“  -

oder „im Zweifelsfall sein lassen.“

Er fing an, Lästiges vor sich her zu schieben.

Er hätte von sich sagen können:

 

I' m born to be lazy.

It' s easy to stay.

I hate to be busy.

I like to delay.

 

Geboren zum Faul-Sein

bleib ich da, wo ich bin.

Ich hasse das Rödeln,

schiebe gern vor mich hin.

 

Er wollte nicht mehr sehen:

Wer nur noch macht, was nötig ist,

der macht sich öde, macht sich blöde.

Wer nur noch schrumpft, versumpft,

Er macht sich dumpf und stumpf.

 

Rasten ist die Mitte zwischen Rasen und Rosten –

zeitweise, doch nicht auf Dauer.

Wenn ich zu viel gerast bin, vom Rasen genug habe,

macht es Sinn, eine Zeit lang zu rasten.

Doch wer immer rasten will, der rostet.



 

Es war nicht so, dass Hartmut lange hin und her überlegte, ob er etwas tun wollte oder nicht. Insofern hatte er keine Entscheidungsschwierigkeiten. Es ging nicht um die Warnung, die in einem Sprachgestaltungsvers (der Waldorfschulen) liegt: „Wer berät langen Rat, kommt zu spät mit der Tat.“ Es kam ja sowieso nicht zur Tat, weder schnell noch spät. Er entschied sich schnell, etwas nicht zu tun, und mit der Zeit fiel die Entscheidung, etwas nicht zu tun, immer häufiger sogar superschnell, „zeitlos“, ohne Entscheidung, ohne dass er sich entscheiden musste, wurde zu einem Automatismus.

 

Dabei schob er beiseite, was er eigentlich wusste, ja selbst geschrieben hatte.

Er wollte sich das Leben leicht machen. Dabei wusste er doch:

Wer sich das Leben leicht machen will, macht es sich schwierig.

Und wer bereit ist, es sich schwierig zu machen, macht es sich leicht.

 

Wenn ich Schwierigkeiten ausweichen will,

treffe ich auf Schwierigkeiten.

Wenn ich Schwierigkeiten vermeiden will,

ziehe ich Schwierigkeiten an.

Wenn ich Schwierigkeiten entgegen gehe,

ziehen sich die Schwierigkeiten vor mir zurück.

Wenn ich auf Schwierigkeiten treffen will,

weichen die Schwierigkeiten mir aus.

 

Wenn ich Angst vor Schwierigkeiten habe,

wenn ich sie nicht sehen will,

verfolgen sie mich.

Sie wollen mich zu ihrem Opfer machen.

 

Wenn ich ihnen mit Mut begegne,

wenn ich ihnen in die Augen sehe,

flüchten sie vor mir.

Sie wollen nicht, dass ich sie zu meinen Opfern mache.

Sie haben Angst vor mir.


In Wolfram von Eschenbachs "Parzival" geht der unbekümmert-naive Titelheld ohne jedes Anzeichen von Furcht auf eine Brücke zu. 30 Ritter, die hinter ihr als Grenzhüter warten, um unerwünschte Eindringlinge aufzuhalten, ziehen sich vor ihm  hinter die sicheren Mauern der Stadt zurück. Sie denken: "So entschlossen kann nicht ein Einzelner auf eine feindliche Übermacht zugehen. Ihm folgt bestimmt ein ganzes Heer."

 

Umgekehrt: Nicht nur die Armee Napoleons wurde erst auf dem Rückzug  überfallen und fast aufgerieben.


 

Hartmut wollte möglichst nicht mehr auf der Bühne des Lebens mitspielen, dort keine Rolle mehr spielen.

Er wollte nur noch im Zuschauerraum sitzen.

Auf der Bühne konnte er etwas falsch machen, eine falsche Rolle spielen, die richtige Rolle falsch spielen.

Im Zuschauerraum konnte er nichts falsch machen. Solange er zuschaute und zuhörte, machte er alles richtig.

 

Auf der Bühne des Lebens musste er entscheiden.

Er war gezwungen, in Zweifel und Zwiespalt zu leben,

in der Welt der Zwei.

Im Zuschauerraum gab es nichts zu entscheiden.

Er konnte im Einklang leben, einfach,

in der Welt der Eins.


 

Und Hartmut wollte nicht mehr im Land der Zwei leben,

nur noch im Land der Eins.

Er wollte nicht mehr suchen, um zu finden.

Er wollte finden, ohne zu suchen.

Er wollte sich nicht mehr Fragen stellen.

Er wollte sich Antworten geben, Antworten leben,

eine einzige Antwort: ,,Ja".


 

Er sagte sich:

„Ich und andere, richtig und falsch –

du verschwendest dein Leben im Streit.

Dabei bist du doch glücklich,

bist es schon.“ ( Ikkyù )


 

Dann sei es doch auch!

Sei einfach glücklich!

Sei doch einfach!

Sei doch glücklich!



 

 

 

(Später sah er ein, dass niemand, auch er nicht, die Bühne des Lebens einfach verlassen kann, dass jeder auf ihr bleiben und mitspielen, irgendeine Rolle übernehmen muss.

Er achtete dann darauf, nur in Spielen mit zu spielen, die er nicht verlieren konnte, die er schon gewonnen hatte, bevor das Spiel überhaupt begann. Oder bei denen es um nichts oder nur wenig ging, der Einsatz und mögliche Verlust nur gering war.)

 

Aber ich sollte Ihnen die Geschichte der Reihe nach, von Anfang an erzählen:

 

 

 


Gottes-Gegenwart
 

Sabbatruhe

 

Angefangen hat es mit einer Israelreise. Durch den Besuch im „Heiligen Land“ wurde Hartmut aufmerksam auf die traditionell jüdische Form des Nicht-Handelns, den Sabbat. Er hat schon damals ein Manuskript zu diesem Thema geschrieben. Am besten lesen Sie es sich selbst einmal durch.

Ich lasse Sie zu diesem Zweck etwas allein. Die Zeit, die Sie zum Lesen brauchen, kann ich gut nutzen. Ich wollte sowieso noch etwas mit Gabriel und Michael besprechen.“

 

„Ja, mit den beiden Erzengeln.

Hier, das ist das Manusskript.


 

„Ich bin schon wieder da. Der Besuch bei den beiden war viel kürzer als ich gedacht hatte.“

 

„Sie sind neugierig, was ich denn mit Gabriel und Michael besprochen habe. Auch als Ich-Bin führe ich das weiter, was Hartmut während seines Lebens angefangen hat, schreibe Gedichte und Geschichten. Und im Moment spuken mir Einfälle zu einem Gedicht im Kopf herum  -  über Geburt und Tod. Für diese Grenzerfahrungen sind die beiden ja Koryphäen, gewissermaßen „zuständig“. Gabriel ist ja der Erzengel der Inkarnation, der Geburt, Michael der Erzengel der Exkarnation, des Todes. Und ich habe gehofft, dass sie mir vielleicht ein paar treffende Formulierungen vorschlagen könnten. Ich bin auch nicht enttäuscht worden. Der Besuch bei ihnen hat sich gelohnt.

 

Weil ich ja so schnell wieder zurück bin, hatten Sie natürlich gar nicht genug Zeit, Hartmuts Sabbattext zu Ende zu lesen. Aber tun Sie das ruhig, tun Sie es in aller Ruhe. Es lohnt sich, denn in dem Teil, der jetzt kommt, wird erst deutlich, warum der Sabbat für Hartmuts eigenes Experiment mit Handeln und Nicht-Handeln wichtig war. Ich kann warten, bis Sie fertig sind. Ich habe buchstäblich „alle Zeit der Welt“; Zeit ist für mich unwirklich und daher bedeutungslos. Ich lebe in der Ewigkeit."

 

 

Manusskript, Teil II

 

 

 

 



"Ah, Sie sind anscheinend am Ende angekommen. Verstehen Sie jetzt, was Hartmut am Sabbat faszinierte und inspirierte? Fromm drückt es zum Schluss sehr treffend aus: die Möglichkeit, für eine bestimmte Zeit kein Ziel mehr zu verfolgen, nicht mehr für die "Früchte des Handelns zu leben" - Sie erinnern sich, Bhagavad-Gita? - , die  Zeit zu überwinden, nichts anderes mehr zu wollen als zu sein.

Am Sabbat erlebte der gläubige Jude die Nähe und Gegenwart Gottes, die Schechina. Dieses hebräische Substantiv ist abgeleitet vom Verb „schachan“, wohnen, zelten, und weist auf die Begegnung des Volkes Israel mit seinem Gott in der Wüste zurück, wo dieser mitten unter seinem Volk wohnte, in einem Zelt als bewegliches improvisiertes Heiligtum.

„Schechina“  hat die Nebenbedeutungen „Ruhe“, „Glück“, „Heiligkeit“ und „Frieden“, Erfahrungen, in denen die Gegenwart Gottes sich auswirkte und spürbar wurde. Gottes Gegenwart erschafft Frieden, zeigt sich als Frieden – zwischen Mensch und Mensch, Mensch und Natur.

Dieser göttliche Frieden wird gestört oder sogar zerstört durch das Eigen-Wollen, das  eigen-willige Streben des Menschen, das ihn zum Handeln, Eingreifen und Gestalten treibt.

Der Sinn des Sabbat ist also, auf alle zielgerichtete Aktivität zu verzichten; alles los zu lassen, was die Gegenwart Gottes verhindert; keine andere Erfahrung zu wollen als die, die jetzt da ist, jetzt gegeben ist, weil in dieser gegenwärtigen Erfahrung Gott gegenwärtig ist.



 

Ruhen in Allah

 

Diese Erfahrung, am Sabbat im Frieden Gottes zu ruhen, erinnerte Hartmut an eine andere Erfahrung, die er beim Besuch der ehemaligen „Großen Moschee“ in Cordoba gemacht hatte: Auch hier war jede Zielgerichtetheit aufgelöst. In der Moschee von Cordoba geht der Gläubige keinen Weg zu Gott, sondern er kommt an bei Gott -  an dem Ort, wo er gerade ist.

 

Es gibt keinen Weg in diesem Wald aus Säulen, kein Weiterschreiten, keinen Fort-Schritt zu einem Ort, der Gott näher ist.

Der Mihrab (die Gebetsnische) gibt nur die Richtung vor, ist aber kein Ort, den man erreichen soll. Jeder Ort ist richtig, solange die Richtung stimmt.

Glück ist, zu wissen, dass man auf dem richtigen Weg ist. Aber eigentlich gibt es hier gar keinen Weg. Es gibt nur ein Ankommen am Ziel - überall, an jedem Ort.

 

Und ähnlich wie nach seiner Israelreise fand er nach seiner Rückkehr zu Hause in Heinrich Lützelers "Weltgeschichte der Kunst" eine großartige Beschreibung dieser Moschee, in der seine Erfahrung viel treffender, viel überzeugender zum Ausdruck kam als er sie hätte selbst in Worte fassen können.


Eine ähnliche Erfahrung hatte Hartmut auch schon im Nasridenpalast von Granada, der Alhambra, gemacht. Auch hier gibt es kein Hinführen auf einen zentralen Ort, kein Fortschreiten, keine Steigerung der Schönheit, je mehr man sich diesem Ort nähert. Es gibt wohl eine Abfolge von öffentlichen zu immer privateren Räumen. Aber schon die Mosaiken im Eingangsbereich, der einer breiten Öffentlichkeit zugänglich ist, sind genauso komplex und phantasievoll gestaltet wie die im Thronsahl, dem Saal der Gesandten, oder in den Privaträumen des Sultans um den Löwenhof herum. Und auch in diesem Privatbereich gibt es keine Zentrierung auf einen besonders hervorgehobenen, besonders vollkommenen Ort. Kein Ort ist schöner oder weniger schön, jeder ist auf eine andere Weise genauso schön. Als Hartmut versuchte, die Fotos, die er gemacht hatte, räumlich zuzuordnen, konnte er anhand der Fotos den westlichen nicht vom östlichen Pavillon unterscheiden. Und das Stalaktitengewölbe im Saal der zwei Schwestern an der Nordseite ist nicht weniger prächtig als das entsprechende im Saal der Abencerrajen auf der Südseite des Löwenhofs. Diese Gleichwertigkeit, dieses Gleichgewicht zwischen den Richtungen des Raums, dieses Fehlen einer bevorzugten, hervorgehobenen Raumrichtung ist wohl beabsichtigt und soll die Harmonie des Paradieses widerspiegeln, die an jeder Stelle gleich ausgeprägt ist. Das Paradies ist an jeder Stelle gleich vollkommen, nur die Form dieser Vollkommenheit wird variiert. So kann der staunende, von der unüberschaubaren Fülle der Ornamente überwältigte Betrachter an jeder Stelle des Löwenhofs ankommen und bleiben.

 

Und auch zur Alhambra möchte ich noch einmal Heinrich Lützeler zu Wort kommen lassen.



Hartmut sah, dass beide (semitischen) Kulturen, die jüdische und arabische, eine sehr ähnliche Erfahrung hervorgebracht hatten.

 

 

 

Leben im Jetzt

Dadurch, dass Hartmut sich in diese beiden verwandten Erfahrungen vertiefte, reifte in ihm immer stärker der Wunsch, die göttliche Gegenwart nicht unnötig zu verlassen, das Ruhen in Allah nicht aufzugeben, um sich in die Unruhe des eigenen Strebens zu stürzen.

Hartmut sah, dass man auf harten Beton knallt, wenn man auf der einen Seite vom Seil fällt. Er hatte gesehen, mit wie viel Leid es verbunden ist, wenn man „für die Früchte des Handelns lebt.“

Er sah, wie viel Lebensqualität der gegenwärtigen Erfahrung für eine zukünftige Erfahrung geopfert wird.
 

Viele seiner Patienten schufen sich unnötiges Leiden, indem sie nicht in dem lebten, was da war und so, wie es war, genug und gut war, sondern Mangel und Mängel sahen, das, was fehlte, was scheinbar nicht in Ordnung war.

Sie verhielten sich wie eine Kuh, die an einem Kanal stand, über den keine Brücke führte, und ständig auf die andere Seite des Kanals starrte, auf der anscheinend oder scheinbar das Gras grüner und saftiger wuchs. Dabei übersah sie, dass das Gras auf dieser Seite des Kanals einen entscheidenden Vorteil hatte: man konnte es fressen und das andere nicht.

Sie saßen an einer festlich gedeckten, üppigen Tafel, mit saftigen Braten, Trüffeln und edlen Weinen, und beschwerten sich beim Gastgeber, dass es keinen Kaviar und echten Champagner gab.

Sie verhielten sich wie ein Mann, der 99 Goldstücke besaß, deshalb aufgrund des Wohlstands, den er sich schon geschaffen hatte, ein angenehmes, glückliches Leben führen konnte, sich statt dessen jedoch abmühte und quälte, um das eine Goldstück zu erraffen, das ihm zu 100 Goldstücken fehlte.

Hartmut wollte nicht mehr genauso leben.

Er wollte für die Gegenwart, nicht für die Zukunft leben.

Er wollte aufhören, zu warten.

Er wollte schon auf dem Weg am Ziel sein.

Er wollte lieben, was ist,

nicht das lieben, was noch nicht ist -

vielleicht nie sein wird.


Folgendes Gedicht (von Jean Ringenwald) schrieb er damals in seine Spruchsammlung:


 

Wie lange fühlst du dich schon auf dem Weg?

Willst du denn ewig auf dem Weg sein?

Suche nicht mehr! Finde!

Wandere nicht ewig! Komme an!

 

Das Gesuchte, das Ersehnte, das Ziel

war niemals fern, war nie verloren.

Seit immer und ewig ist es in dir,

bist du in ihm angekommen. 

(Jean Ringenwald)

 

 

 

 

 

 

 

 



Am Sabbat wie am Sabbat leben

 

Zunächst einmal nahm Hartmut sich vor, wenigstens am Sabbat auch wie am Sabbat zu leben.
 

An den „Sabbattagen“ gab Hartmut sich ein „Gestaltungsverbot“:  Alles zu unterlassen, was verändernd in die Außenwelt eingreift, nichts neu zu erschaffen, nichts weiter zu führen, nichts besser zu machen. Statt dessen alles so zu lassen, wie es ist, sich zu freuen über das, was schon da ist, dankbar zu sein für das, was da war; das Gegenwärtige zu genießen und zu sehen, dass es vollkommen genug und genug vollkommen ist – die Schechina, die Gegenwart Gottes.

 

Dieses Verbot zielstrebiger Tätigkeit war natürlich am leichtesten einzuhalten, wenn man sich auf die Couch legte und dort liegen blieb, seinen Körper in einen Zustand brachte, in dem er gar nichts tun konnte, und dann seine Aufmerksamkeit auf die Vergangenheit richtete, die ja nicht veränderbar war, also auch den Geist in einen Zustand versetzte, in dem er sich nicht mit Handlungsmöglichkeiten befassen konnte, auch der Geist nichts tun konnte.

 

Der Sabbat ist ja eine Zeit, geprägt von feierlichem, würdevollem Stolz und froher, freudvoller Dankbarkeit. Gott sah am 7. Tag zurück auf das, was er in 6 Tagen geschaffen hatte. Und er sah, dass es gut war. Auch der Mensch sieht glücklich zurück auf die letzten 6 Tage, einerseits mit Stolz auf das Glück, was er sich selbst geschaffen hat, was ihm geglückt ist, andererseits mit Dankbarkeit auf das Glück, das ihm geschenkt worden ist, durch Gottes Gnade, ein wohlwollendes Schicksal, günstige Umstände.

Der Blick geht zurück in die Vergangenheit, froh dass kein Un-Heil geschehen ist, im Frieden mit dem, was geschehen ist.

 

Um auch diese Haltung der Dankbarkeit gegenüber der Vergangenheit anzunehmen, nahm sich Hartmut an Sonn- und Feiertagen – auf besagter Couch liegend -  manchmal eine gewisse Zeit dafür, sich an herausragend erfüllende, besondere Erfahrungen zu erinnern. In dieser Spanne Zeit lebte er, was er im Gedicht „Sabbatstimmung“ beschrieben hatte. Er fand das  Voll-Endete, das Voll-Kommene, das an sein Ende Gekommene, das in die ganze Fülle Gekommene, in dem nichts fehlte und störte, in dem er ankommen und bleiben konnte.

Diese Übung war eine vereinfachte Fassung, der Kern der Positivitätsübung, die Hartmut für seine Patienten entwickelt hatte.

 

Er ließ diese Erfahrungen nicht in Form eines Films noch mal in sich ablaufen, mit Bildern, die in einer Reihe standen, in einem zeitlichen Ablauf auseinander und aufeinander folgten, sondern als eine zusammenhanglose Ansammlung von Standbildern, in der jedes Bild alleine stand, in diesem Augenblick als eines alles war.

 

 

 

Diese Erfahrung war jedoch geprägt durch ein sehr starkes Auswählen und dadurch Ausschließen. Sie verstellte den Blick dafür, dass Vollkommenheit ja nicht nur in solchen außergewöhnlichen Ausnahmeerfahrungen zu finden ist, sondern auch im gewöhnlichen Alltag, immer und überall. Von diesem Makel frei war eine andere Erfahrung, die Hartmut deshalb an den meisten „Sabbattagen“ bevorzugte: die achtsame Wahrnehmung des Atmens.

 

Ich lese Ihnen mal einen Entwurf vor, den Hartmut damals geschrieben hat:

 

„Hartmut liegt mit geschlossenen Augen auf der Couch. Er fühlt, wie er einatmet, er fühlt, wie er ausatmet. Er findet das Vollkommene. Dieser Atemzug ist vollkommen, weil er völlig für sich allein steht, weil er mit keinem Atemzug, der schon war, und mit keinem, der noch sein wird, etwas zu tun hat. Er ist unbelastet von allem, was schon geschehen ist. Unschuldig wird er in diesem Augenblick neu geboren, erstmalig und einmalig, ein staunenswertes Wunder. Und er wirft keinen Schatten voraus auf das, was (vielleicht) kommen wird, ist bedeutungslos für alles Zukünftige. Wegen dieser Freiheit von aller Vergangenheit und dieser Bedeutungslosigkeit für jede Zukunft ist dieser Atemzug in diesem Augenblick vollkommen. Und gerade wegen dieser Bedeutungslosigkeit für alles, was nicht jetzt geschieht, bedeutet er alles." 

 

Hartmut wollte diesen Atemzug, er liebte diesen Atemzug. Oder der Atemzug wollte sich mit Hilfe von Hartmut selber, liebte sich selber. Hartmut war Erfahrung, die sich selber wollte und liebte.“

 

 

Nun ist es ja auf die Dauer etwas einseitig, den ganzen Tag auf der Couch zu liegen, zu atmen und in wunderschönen Erinnerungen zu schwelgen. Er nahm sich vor, zwar diesen Zustand der Un-Tätigkeit aufzugeben, jedoch auch im Tun trotzdem in der Erfahrung der Gegenwart zu bleiben, keine jetzige Lebensqualität für eine zukünftige zu opfern. Das erschien ihm am einfachsten, wenn er nur in dem tätig war, was er schon kannte, was er schon wusste, von dem er wusste, dass es genug war, schön genug und gut genug; wenn er nichts Neues suchte, nichts Neues erprobte. Er wollte nur etwas lesen, was er schon gelesen hatte, nichts Unbekanntes – und natürlich nichts schreiben. Er wollte im Computer nur ein Foto anschauen, was er gemacht hatte und was fertig war, nicht eins, was noch bearbeitet werden musste – und natürlich wollte er nicht im Internet neue Fotos suchen oder selber neue Fotos machen.

 

 

Das stellte sich als schwieriger heraus als er gedacht hatte.

Er hielt sein Vorhaben nie lange durch, meistens noch nicht einmal einen ganzen Sabbat-Tag.

 

 

 

Marilyn Monroe hat ja mal gesagt.

„Eigentlich wollte ich immer treu sein.

Aber irgendwie hat es nie geklappt.“

 

Hartmut hätte sagen können:

 

„Eigentlich wollte ich immer faul sein –

wenigstens mal für einen Tag.

Aber irgendwie hat das nie geklappt“

 

 

 

Er war eben ein taten-hungriger, tat-besessener Europäer, ein Nachfahre römischer Schnellstraßenbauer und beutegieriger Raubgermanen.

 

Es stritten sich in ihm der Künstler und der Mystiker, der Seinsverbesserer und der Seinsfinder, der, der die Welt vollkommen machen will, und der, der sieht, dass sie schon vollkommen ist. Nach einiger Zeit setzte sich in ihm immer wieder der auf Fortschritt und Weiterentwicklung ausgerichtete „Optimierer“ durch, gegen den „Optimalisten, der sieht, dass das, was jetzt ist, schon optimal ist, nicht erst optimal gemacht werden muss.

 

Beim Anschauen der schon „perfekten“ Fotos stieß er dann doch irgendwann auf eins, das danach schrie, weiter bearbeitet zu werden, auf Fotos, die scheinbar forderten, geordnet zu werden; beim Lesen schon bekannter Sätze wurde er neugierig auf Sätze, die er noch nicht kannte, entstand ein Drang, weiter zu lesen.

 

Und sobald er auch nur ein Mal einer solchen „Versuchung“ nachgegeben hatte, nach einem einzigen „Sündenfall“, hatte er sich selbst aus dem Paradies vertrieben und fand keinen Weg zurück mehr. Es war, als wäre ein Schalter umgelegt worden. Mit einem einzigen Schritt hatte er das Land des Seins, das Reich der Eins, verlassen, hatte  das Land des Tuns, das  Reich der Zwei betreten, wurde dort sofort gefangen genommen und fest gehalten.

Es entstand ein Drang zum Weitermachen, der sich zu einem immer stärkeren Sog steigerte, sich immer mehr zu einem Zwang entwickelte.

 

Hartmut sah schließlich ein, dass er nicht verhindern konnte, auch am Sabbat in gestaltendes Tätig-Sein abzurutschen. Um sich nicht aber sofort wieder auf die Zukunft auszurichten, sich wieder in das Verfolgen von Absichten und das Erreichen von Zielen zu verlieren, nahm er sich vor, auch im Handeln in der Gegenwart zu bleiben, nur das zu wollen, was er gerade tat, sein Handeln zu wollen, nicht den Erfolg, die Früchte des Handelns.

 

Er merkte jedoch, dass auch das schwieriger war als er vermutet hatte. Um im absichtslose Handeln zu bleiben, musste er das, was er im Moment tat, aus jedem Zusammenhang lösen, völlig für sich allein stehen lassen.

 

Er musste einen Satz schreiben und dann den Kugelschreiber weglegen.

Er musste nur eine Zahl im Sudoku finden und dann nicht weitersuchen.

Er musste sich ein einziges Foto ansehen (oder bearbeiten) und dann den Computer ausschalten.

Er musste sich ein Lied anhören und dann den Kopfhörer abnehmen.

 

Er musste sich darauf beschränken, in

Titelbildern, Schlagzeilen und Überschriften zu leben,

durfte sie nicht in Bewegung kommen lassen in einen Film, in einen Text.

 

Nur dann war er sicher, sich nicht wieder in zielorientieres Handeln zu verlieren.

 

Doch auch diese Haltung, in isolierten Einzelhandlungen zu leben, war schwierig durch zu halten. 




 

Für die „Nicht-Sabbat-Tage“ der Woche nahm sich Hartmut vor, alles zu vermeiden, was Unruhe und Hast ins Leben bringt:

 

Er wollte die Zeit nutzen - dafür, sich und anderen Zeit zu geben, Zeit zu lassen.


 

 

Er wollte möglichst nichts mehr unter Zeitdruck tun, wollte sich nicht mehr unter Druck setzen, etwas möglichst schnell zu erreichen oder zu erledigen, bis zu einem bestimmte Zeitpunkt fertig zu machen.

 

Er wollte sich nicht mehr voran treiben, nicht mehr gehetzt wie auf der Flucht vorwärts stürmen.

 

Er wollte in seinem "Tage-Werk", durch das er wirkte und sich verwirklichte, sich nicht mehr von einem Ziel schnell nach vorne ziehen lassen.

 

Er wollte eilen mit Weile.

Er wollte sich in den nächsten Schritt weiter gleiten lassen, Schritt für Schritt, "einfach so". Denn

 

den Weg, den ich gehe, kann ich verlieren;

den Schritt, den ich gehe, nicht;

den Schritt, den der Schritt geht, nicht.

Er wollte gehen, ohne zu gehen.

 

 

Darüber hat er ja in den „Zen-Gedichten“, vor allem in „Schon auf dem Weg am Ziel sein“, ausführlich geschrieben.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 



 

Das alles war ja durchaus vernünftig, einfach eine Sache des gesunden Menschenverstands. Solange man dem gesunden Menschenverstand folgt, geht man auf sicherem Boden unter dem Seil; oder man hält sich eine Zeit lang oben, fällt irgendwann runter, klettert wieder rauf und macht weiter.

 

Doch das war Hartmut nicht genug. Er entschloss sich zu einem radikalen Versuch, den er das „Sabbatexperiment“ nannte. Damit verließ er den sicheren Boden; und bei dem Versuch, auf dem Seil zu tanzen, stürzte er wegen der klaren Neigung zu einer Seite natürlich sofort ab - immer wieder.




 

Das Sabbat-Experiment

 

Aber entschuldigen Sie, ich habe nicht daran gedacht, dass Sie ja gar nicht wissen können, was das Sabbatexperiment ist: Das Sabbatexperiment, das war die Frage: Ist es möglich, an allen Tagen so zu leben wie am Sabbat? Ist es möglich, gar nicht mehr zu handeln? Ist es möglich, nur in dem passiv beobachtenden Ich zu leben, nicht auch in dem Ich, das das Handeln steuert?

 

 

Dass das nicht möglich ist, hätte ihm eigentlich schon der „gesunde Menschenverstand" sagen können.

 

Oder er  hätte durch sein Lieblingsbuch, die Bhagavad-Gita, genug gewarnt sein können:

 

„Even the survival of your body would not be possible without action.

Sogar das Überleben deines Körpers wäre nicht möglich ohne Handeln.“

(Bhagavad-Gita III, 8)

 

Oder durch einen seiner Lieblingsautoren, Hermann Hesse, der ja auch im "Glasperlenspiel" schreibt:

"Wir sollten nicht aus der Vita activa in die Vita contemplativa fliehen, noch umgekehrt,

sondern zwischen beiden wechselnd unterwegs sein,

in beiden zu Hause sein, an beiden Teil haben."

 

Doch Hartmut ließ sich von dem Ideal, ein von den Zwängen des Handelns freies Leben zu führen, nicht abbringen.

Er folgte der Maxime: „Das Mögliche wird nur erreicht, wenn das Unmögliche immer wieder versucht wird.“ -

und der Überzeugung: "Die Welt gehört den Radikalen."

 

Dabei übersah er jedoch, dass er damit wesentliche Kräfte seines Geistes vernachlässigte, wichtige Ich-Kräfte nicht mehr pflegte und durch Nicht-Gebrauch verkümmern ließ. Auch sein Ich – nicht nur sein Ego – lebte doch im Denken, Fragen, Unterscheiden und Entscheiden. Was er sich fragte, für was er sich entschied, war unbedeutend. Wichtig war, dass er sich fragte, dass er sich entschied.

 

Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte er eine Selbsteinschätzung Dalis auf sich übertragen können:

"Der einzige Unterschied zwischen einem Verrückten und mir besteht darin, dass ich nicht verrückt bin."

Dass Hartmut nicht verrückt war, dass er immer noch wusste, was Mitte war, zeigte sich darin, dass er weiterhin anderen Mitte vermitteln konnte. Nicht sein Wissen, sein Leben hatte er aus der Mitte gerückt, gewöhnte sich an diese Verschiebung zu einer Seite und wollte sich lange Zeit nicht zurück rücken.


Sie fragen, warum ein kluger Mensch wie Hartmut auf so eine dumme Idee kommen kann. Diese Frage kann ich Ihnen auch nicht beantworten. Ich wusste auch nie, warum Hartmut seine Irrwege ging. Ich konnte ihm immer nur sagen, wie er auf seinen Weg zurückfinden konnte – wenn er mich fragte, wenn er mir zuhörte. Menschen können sich natürlich nur deshalb verirren, weil sie vergessen haben, wer sie sind: ein Kind Gottes, das alle Macht und Größe des Vaters hat. Dass Menschen das vergessen können, ist das größte aller Wunder. Das größte Wunder ist avidya, die Unwissenheit.





 

Wie tanzt man denn nun auf dem Seil?

 

Lieber Leser, ich weiß auch noch nicht, was das Ich-Bin dem Besucher noch alles über Hartmuts Entgleisung ins Nicht-Tun erzählen wird. Und wie er ihm klar machen will, auf welchem Weg Hartmut denn in seine Mitte zurückgefunden hat, ist mir auch noch ein Rätsel. Immerhin muss Hartmut ja wieder ins Gleichgewicht gekommen sein. Denn wie hätte er sich sonst in das Ich-Bin hinein „opfern“ können.

 

Ich kann dir aber schon sagen, wie das Gespräch über dieses Thema enden soll:

 

 

 

„Sie fragen mich natürlich zu Recht: „Wie sieht denn nun der Tanz auf dem Seil aus? Sie sind doch ein Ich-Bin. Sie wissen doch, dass Sie es sind, haben es nicht vergessen. Sie können sich deshalb doch nicht verirren, können die Mitte halten, sich auf dem Seil halten, fallen nicht auf der einen oder der anderen Seite runter.“

 

 

 

 

Ich möchte diese Frage so beantworten, wie es mein Freund, das Ich-Bin des großen Nagarjuna, täte.

Dafür muss ich jedoch etwas ausholen, in den Bereich der Logik.

 

Welche Lage kann ein Punkt auf einem Blatt Papier haben, wenn Sie eine Kreislinie zeichnen, die das Blatt in eine Innenfläche A und eine Außenfläche B teilt?

Dann kann der Punkt vier mögliche Lagen haben:

Er kann entweder in A liegen, nicht in B.

Oder er kann in B liegen, nicht in A.

 

Und er kann auf der Kreislinie liegen.

Dann liegt er sowohl in A als auch in B.

Genauso gut könnte man jedoch sagen.

Dann liegt er weder in A noch in B.

 

Sie haben hier die vier logischen Möglichkeiten, die es bei jeder Gegensatzeinheit gibt.


 

 

Das übertragen wir jetzt auf unsere Frage nach Handeln und Nicht-Handeln:

Wir „zeichnen“ auch in die eine, ganze Wirklichkeit eine unterscheidende „Kreislinie“, die sie in den Gegensatz von Tun und Lassen teilt und trennt.

 

Auch hier haben wir jetzt zunächst zwei Entweder-Oder-Möglichkeiten:

 

Die Situation legt nahe, entschlossen zu handeln.

Oder sie legt nahe, gelassen nicht zu handeln.

 

Manchmal geht es darum, mutig zu tun.

Manchmal geht es darum, friedvoll zu lassen.

 

Abwechselnd, im Rhythmus, an den Werktagen und in der Arbeitszeit das eine, an Ruhetagen und am Feierabend das Andere.


 

Diese Alternative kommt ja sehr schön im „Gelassenheitsgebet“ zum Ausdruck:

 

Gott gib mir

 

die Gelassenheit,

die Dinge anzunehmen,

die ich nicht ändern kann,

 

den Mut,

die Dinge zu ändern,

die ich ändern kann,

 

und die Weisheit,

den Unterschied zu sehen!


( Reinhold Niebuhr)
 

 

 

Und wie bei jeder Entweder-Oder-Frage kommt es nicht nur darauf an, möglichst klar zwischen den Möglichkeiten zu unterscheiden, sondern sich auch eindeutig für eine davon zu entscheiden und sie mit treuer Entschlossenheit ganz-herzig zu leben.




 

 

Die beiden anderen logischen Möglichkeiten gibt es natürlich auch:

 

zu handeln, ohne zu handeln

nicht zu handeln, ohne nicht zu handeln.

 

Im Handeln nicht zu handeln

Im Nicht-Handeln zu handeln

 

zu tun, indem ich lasse

zulassen, indem ich tu.

(Was genauso gut bedeutet, dass ich weder tu noch lasse)

 

 

Das ist das schon mehrfach angeführte Ideal der Bhagavad-Gita.

 

„Wer im Handeln Nicht-Handeln sieht

und im Nicht-Handeln Handeln, ist ein Weiser unter den Menschen. Verwirklicht hat er alles Handeln.“

(Bhagavad-Gita IV,   )

 

 

 

Das ist das absichtslose Handeln des Zen:

nur das Tun zu wollen, nicht das Ergebnis, den Erfolg;

jede Absicht beim Handeln los zu lassen, um mit aller Kraft und ungeteilter Aufmerksamkeit ausschließlich und ganz beim Handeln zu sein, im Handeln zu sein.

 



 

 

Die Mitte besteht natürlich darin, keine Vorliebe zu haben,

weder für das Handeln noch für das Nicht-Handeln.

 

Das Handeln weder zu suchen noch zu vermeiden;

Das Nicht-Handeln weder zu suchen noch zu vermeiden.

 

 

Alle vier Möglichkeiten von Handeln und Nicht-Handeln gleich-wertig, gleich-gültig zu leben – das ist der Tanz auf dem Seil.

 

 

 

 

 

PS:

Im Hintergrund stellt sich natürlich die Frage, ob denn überhaupt die Wirklichkeit  wirklich in diese Gegensatz-Einheit geteilt ist, ob man die Ganzheit überhaupt durch eine Unterscheidung trennen muss und sollte.

 

 

 

 

 

“Das ist Ihnen zu unpraktisch. Nun, wie das ideale Tun und Lassen im Einzelfall aussieht, kann ich Ihnen natürlich nicht sagen. Das abstrakte Prinzip müssen Sie in jeder Situation selbst konkretisieren, in jeder Situation selbst finden, was für Sie stimmt und passt.

 

 

 

 

 

 



 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

Publiziert am: Freitag, 04. Januar 2019 (1711 mal gelesen)
Copyright © by Rudolfo Kithera

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