Ken Wilber zu "Vergänglichkeit"
Warum die Ewigkeit stirbt, die Zeit geboren wird, wenn du dich dagegen sträubst, die Vergänglichkeit anzunehmen, zeigt sehr klar und überzeugend Ken Wilber:
Er macht deutlich, dass fast zwangsläufig der zeitlose ewige Augenblick in den Gegensatz von Vergangenheit und Zukunft in der Zeit gespalten wird, wenn der erste Schritt, in der Ureinheit eine erste Unterscheidung zu treffen, die raumlose Ganzheit des Seins in den Gegensatz von eigenem Organismus und Außenwelt im Raum aufzutrennen, einmal gemacht ist.
„Indem der Mensch sich ausschließlich mit seinem Organismus identifiziert, schafft er den eingebildeten Gegensatz von Sein und Nicht-Sein (welcher undenkbar ist, solange der Organismus eins ist mit der Umwelt), und nun erträgt er den Gedanken nicht, dass er der Vernichtung entgegengeht....
Weil der Organismus durch den primären Dualismus von der Umwelt geschieden wird - und nur deshalb -, entsteht das, was man Existenzangst nennt, die Angst, die in der Spannung von Sein und Nicht-Sein, von Existenz und Nicht-Existenz, von Leben und Tod liegt. Der Mensch kann die Möglichkeit seiner bevorstehenden Vernichtung nicht akzeptieren oder auch nur ins Auge fassen, und da er andererseits auch nicht begreift, dass Leben und Tod in Wirklichkeit eins sind, flieht er einen eingebildeten Tod, den er als das Gegenteil des Lebens ansieht.
Dass Leben und Tod „nicht-zwei“ sind, ist in der Tat schwer zu verstehen, aber nicht etwa, weil die Angelegenheit so komplex ist, sondern weil sie so einfach ist und wir sie daher schon verfehlen, wenn wir zum Nachdenken auch nur ansetzen. Denn wir gehen davon aus, dass das Leben mit der Geburt beginnt und mit dem Tod endet: der Tod steht in unaufhebbarem Gegensatz zu Geburt und Leben. Tatsächlich aber sind Geburt und Tod nur zwei verschiedene Weisen, die Wirklichkeit des gegenwärtigen Augenblicks zu betrachten. In der absoluten Gegenwart, so sagten wir, gibt es keine Vergangenheit, und was keine Vergangenheit besitzt, ist etwas, was gerade geboren wird. Geburt ist Vergangenheitslosigkeit. In der absoluten Gegenwart gibt es aber auch keine Zukunft, und was keine Zukunft besitzt, ist etwas, was gerade gestorben ist. Tod ist Zukunftslosigkeit. Deshalb ist der gegenwärtige Augenblick sowohl neugeboren als auch tot. So sind Geburt und Tod nur zwei Weisen, über denselben zeitlosen Augenblick zu sprechen, und ihre Trennung ist nichts als Illusion.
Indem er aber die Einheit von Leben und Tod zerstört und leugnet, zerstört und leugnet er auch die Einheit des gegenwärtigen Augenblicks, denn Leben, Tod und das „Nun“ sind eins. Und so entsteht die Zeit, denn indem der Mensch sich dem Tod verweigert, weigert er sich, keine Zukunft zu haben, und damit verschließt er sich der Wirklichkeit des zukunftslosen, weil zeitlosen Augenblicks. Er kann nicht mehr jetzt existieren; er muss in der Zeit existieren, er lebt nicht mehr freudig im Heute, denn er muss ja auch morgen leben. Emerson (in „Self-reliance“) schildert diesen Zustand:
Die Rosen unter meinem Fenster verweisen nicht auf frühere Rosen oder bessere; sie sind, was sie sind; sie existieren in Gott, heute. Zeit gibt es für sie nicht. Da ist nur die Rose; sie ist vollkommen, in jedem Augenblick ihres Daseins... Der Mensch aber verschiebt oder erinnert; er lebt nicht in der Gegenwart, sondern beklagt mit rückwärts gewandtem Blick die Vergangenheit oder steht, der Reichtümer, die ihn umgeben, nicht achtend, auf den Zehenspitzen, um die Zukunft voraus zu sehen. Er kann nicht glücklich und stark sein, bis er mit der Natur in der Gegenwart lebt, außerhalb der Zeit.
Genau das ist jedoch das Problem, denn in der Gegenwart außerhalb der Zeit leben heißt keine Zukunft haben, und keine Zukunft haben heißt den Tod annehmen - das aber kann der Mensch nicht. Er kann weder den Tod annehmen noch im Jetzt leben, und wenn er nicht im Jetzt lebt, lebt er gar nicht.
Auf der Flucht vor dem Tod fällt der Mensch aus dem Jetzt in die Zeit; der Versuch, dem Tod des zeitlosen Augenblicks zu entkommen, mündet in blinde Jagd nach der Zukunft. Da der sekundäre Dualismus die Einheit von Leben und Tod zerstört, zerstört er auch die Einheit des ewigen Augenblicks, denn Leben, Tod und Ewigkeit sind eins in diesem zeitlosen Jetzt. Die Scheidung von Leben und Tod ist also letztlich dasselbe wie die Scheidung von Vergangenheit und Zukunft - und das ist die Zeit.“
(Ken Wilber, Das Spektrum des Bewusstseins, S. 128 ff)
Publiziert am: Samstag, 21. Dezember 2024 (30 mal gelesen)
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