Bewege dich selbst
Versuche nicht, andere in Bewegung zu bringen! Bewege dich selber!
Wenn du, lieber Leser, in einem Stuhl sitzt, links von dir sitzt zwei Meter entfernt ein Anderer, auch in einem Stuhl, und der Abstand ist dir nicht genug, dann kannst du natürlich versuchen, den Anderen zu überzeugen, dass er seinen Stuhl nimmt und einen Meter nach links verrückt. Das wird er aber wahrscheinlich nicht tun; denn er hat ja gute Gründe dafür, gerade da zu sitzen, wo er sitzt, und ist ja überzeugt, dass er da richtig sitzt. Du wirst ihn wahrscheinlich nicht überzeugen können. Und dazu zwingen, sich weiter weg zu setzen, kannst du ihn ja auch nicht. Es geht darum, ob er seine Füße und Hände bewegt oder nicht. Das entscheidet er, nicht du. Das betrifft seinen Lebensraum, den er gestaltet, wie er es will. Du versuchst, Einfluss auszuüben in einem Bereich, in dem du keine Macht hast. Du mühst dich nur vergeblich ab, fühlst dich zu Recht ohn-mächtig, ohne Macht, das zu erreichen, was du willst.
Aber, um das zu erreichen, was du willst, bist du auf das wohlwollende Mitspielen des Anderen gar nicht angewiesen. Du musst dich gar nicht von ihm abhängig machen, weil du es nicht bist. Was du erreichen willst, ist mehr Abstand. Den kannst du auch alleine, nur mit eigenen Kräften herstellen, indem du deine eigenen Hände und Füße bewegst. Niemand hindert dich daran, den eigenen Stuhl zu nehmen und ihn einen Meter nach rechts zu setzen. Dann hast du den Abstand, den du willst. Das ist deine Bewegung, das betrifft deinen Lebensraum, deinen Machtbereich, den du gestaltest, wie du willst. Und du fühlst dich zu Recht als jemand, der frei ist, der sein Leben selbst bestimmen kann.
Ab und zu erzähle ich einem meiner Patienten (meistens sind es ja Patientinnen) folgende Geschichte:
„Stellen Sie sich mal vor, Sie haben gerade jemanden neu kennen gelernt, der nett und sympathisch zu sein scheint, und haben deshalb vereinbart, gemeinsam einen schönen Tag am Meer zu verbringen. Sie gehen also an den Strand und breiten ihre Badehandtücher im feinen gelbweißen Sand aus. Erst jetzt merken Sie, dass der Andere sich unter einem schönen Tag am Strand etwas ganz Anderes vorgestellt hat als Sie. Während Sie sofort ins erfrischende Wasser wollen, will der Andere einfach nur in der Sonne liegen und dösen. Weil Sie nicht alleine ins Wasser gehen wollen, versuchen Sie, den Anderen dazu zu bewegen, auch mitzukommen. Sie weisen ihn darauf hin, dass die Zeit gerade günstig ist, dass die Strandwacht die grüne Fahne gehisst hat, das Schwimmen also erlaubt und ungefährlich ist. Der Andere macht jedoch klar, dass er keine Lust hat, jetzt ins Wasser zu gehen. Trotzdem versuchen Sie immer wieder, ihn zu überzeugen oder zu überreden, bemühen sich mit allen Mitteln, ihn in Bewegung zu bringen, während er genauso hartnäckig immer wieder deutlich macht, dass er gar nicht in Bewegung kommen will. Als Sie schließlich einsehen, dass es keinen Zweck hat, und aufgeben, stellen Sie fest, dass die Flut der Ebbe gewichen ist; die rote Fahne ist gehisst, die Gelegenheit zum Schwimmen ist vorbei. Als Sie auf die Uhr sehen, merken Sie, dass es schon spät ist und Zeit, aufzubrechen und zurück nach Hause zu fahren. Das, was Ihnen wichtig war, haben Sie verpasst, versäumt. Sie sind nicht ein einziges Mal im Wasser gewesen. Enttäuscht und unzufrieden, wütend auf den Anderen und sich selbst, treten Sie die Heimreise an.
Sie können, aber Sie müssen sich nicht so verhalten.
Es gibt eine Alternative: Sie können sich sagen: Anscheinend haben wir nicht dasselbe gemeint, als wir gemeinsam beschlossen haben, zusammen ans Meer zu fahren. Jeder hat geglaubt, dass der Andere dasselbe meint wie er selbst, sich unter einem schönen Tag am Meer dasselbe vorstellt, dasselbe will. Das scheint ja nun ein bedauerliches, aber eindeutiges Missverständnis zu sein. Ich will ins Wasser, er will im Sand und in der Sonne liegen. Nun ist ja beides nicht grundsätzlich falsch. Der Wunsch, sich möglichst oft und lange im frischen Wasser des Meeres zu bewegen, ist ja genauso berechtigt wie sein Wunsch, möglichst lange in Sand und Sonne zu liegen und sich einfach auszuruhen. Er sieht nichts falsch, und ich sehe nichts falsch. Es ist beides in Ordnung. Es ist so wie bei einem Schlüssel, der nicht in ein Schloss passt. Daran ist nicht der Schlüssel schuld, daran ist auch nicht das Schloss schuld. Schlüssel und Schloss passen nur nicht zusammen. Das ist dann einfach so und man muss es einfach so akzeptieren, wie es ist. Es macht keinen Sinn, sich krampfhaft zu bemühen, das, was nicht passt, passend zu machen. Ich will mich bewegen, und er will ruhen, sich nicht bewegen. Das passt nicht zusammen. Aber es macht keinen Sinn, dass ich versuche, ihn gegen seinen Willen in Bewegung zu bringen. Damit verschwende ich nur meine Kraft und meine kostbare Zeit. Wenn er hier in der Sonne liegen will, soll er das tun. Das ist in Ordnung.
Aber wenn ich das akzeptiere, was er will und akzeptiere, dass das nicht zu dem, was ich selber will, passt, heißt das ja auch nicht, dass ich das, was ich will, aufgeben muss. Nur weil er hier liegen bleiben will, muss ja nicht auch ich hier mit ihm zusammen liegen bleiben. Ich kann ihn nicht in Bewegung bringen, weil er das nicht will. Ob er sich bewegt oder nicht, entscheidet letztlich er. Darauf habe ich keinen Einfluss, das liegt außerhalb meiner Macht. Aber ich kann mich selbst bewegen, weil ich das will. Ob ich mich bewege oder nicht, das entscheide nur ich, darauf hab nur ich Einfluss, dass liegt ausschließlich in meiner Macht. Ich gehe jetzt alleine ins Wasser. Zusammen wäre es zwar schöner, aber ich kann ja nur das leben, was möglich ist, und auch alleine macht es immer noch genug Spaß. Vielleicht finde ich ja im Wasser andere, die mit mir herumtollen und plantschen wollen. Wenn ich lange genug im Wasser war, kann ich zufrieden zu ihm zurückgehen und mich auch etwas im Sand ausruhen. Und vielleicht passiert ja auch Folgendes: Vielleicht bringe ich ihn ja gerade dadurch in Bewegung, dass ich ihn gar nicht mehr in Bewegung bringen will, mich gar nicht mehr darum kümmere, ob er sich bewegt oder nicht, sondern nur mich selbst bewege. Wenn er aus seinem Dösen aufwacht, er zur Seite nach mir tastet und seine suchende Hand ins Leere greift, gefällt ihm ja vielleicht nicht, dass ich nicht mehr da bin. Vielleicht kommt er dann nach.
Publiziert am: Samstag, 26. November 2016 (1107 mal gelesen)
Copyright © by Rudolfo Kithera
[ Zurück ]