Aufmerksamkeitsübung
Einführung
Ich möchte Ihnen eine Übung vorstellen, in der Schritt für Schritt eine vereinheitlichte Wahrnehmung aufgebaut wird. Dabei beginnen wir mit dem Wahrnehmungsbereich, der gewöhnlich dominant ist, dem Sehen; anschließend wird die Aufmerksamkeit auf andere Bereiche ausgedehnt, bis sie gleichzeitig eine Vielfalt von Wahrnehmungsbereichen umfasst, die zu einer neuen Einheit integriert werden.
Erklärung des ganzheitlichen Sehens
Unser Sehen läuft üblicherweise so ab, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf einen bevorzugten Punkt richten, unsere Wahrnehmung auf eine Stelle konzentrieren. Das liegt daran, dass wir schon mit „Vor-Urteilen“, was uns wichtig oder unwichtig ist, in das Sehen hereingehen. Wenn ich mich z. B dafür interessiere, wie spät es ist, werde ich auf die Uhr sehen, die dort steht, und sie nicht ohne Absicht wahrnehmen wie alles andere in meinem Sehfeld auch, sondern sie bewusst bemerken und meine Aufmerksamkeit darauf richten; den Farn dort in der Ecke, der durchaus auch noch in meinem Sehfeld liegt, werde ich zwar wahrnehmen, aber nicht bemerken. Wenn ich mich aber dann frage, ob der Farn in der letzten Woche genug Wasser bekommen hat, werde ich mich dem Farn zuwenden, den Farn klar bemerken, dagegen die Uhr nicht mehr. Das "normale" Sehen ist vergleichbar einem Scheinwerfer, der in einem dunklen Raum auf eine bestimmte Stelle gerichtet wird. Nur an diesem Punkt des Raums ist es hell, überall sonst ist es dunkel. Dann wandert der Scheinwerfer, eine andere Stelle wird angestrahlt, dort ist es jetzt hell, an der Stelle, auf die der Scheinwerfer vorher gerichtet war, ist es jetzt dunkel. Genauso wandert unsere Aufmerksamkeit in einem zeitlichen Nacheinander von einem bevorzugten Punkt, auf den wir uns konzentrieren, weil er für uns in diesem Moment besonders wichtig und bedeutend ist, zum nächsten.
Es gibt neben dieser üblichen Form des Sehens, die im Alltagsleben natürlich berechtigt und sinnvoll ist, eine andere, die ich jetzt mit Ihnen im Rahmen dieser Aufmerksamkeitsübung entwickeln möchte: ein Sehen, in dem die Aufmerksamkeit nicht von einem bevorzugten Punkt zum nächsten wandert, sondern in dem alles, was zu sehen ist, gleichzeitig, alles „mit einem Blick“, und gleichwertig, als gleich wichtig wahrgenommen wird. Dabei bedingen sich diese Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit der Wahrnehmung gegenseitig. Nur wenn alles für mich die gleiche Bedeutung hat, kann ich auch alles gleichzeitig wahrnehmen. Sobald ich etwas eine besondere Bedeutung gebe, entsteht sofort die „Springaufmerksamkeit“, die bei uns im Alltag meistens vorliegt.
Aber nicht immer. Auch diese andere Form des Sehens, die wir jetzt in dieser Übung aufbauen, tritt im Alltag manchmal auf: Wenn Sie z. B im Zug sitzen und aus dem Fenster in die Landschaft sehen, dann nehmen Sie nicht zuerst eine Kuh wahr, dann eine Pappelreihe, dann einen Zaun, dann ein Bauernhaus, sondern Sie nehmen die ganze Landschaft als Einheit wahr, alles zusammen auf einen Blick. Und dabei ist die Kuh nicht wichtiger als der Zaun, der Zaun nicht wichtiger als die Pappelreihe, die Pappelreihe nicht wichtiger als das Bauernhaus, sondern alle sind "gleichberechtigte" Teile der Ganzheit Landschaft.
Auswahl eines geeigneten Ruhepunkts
Eine Seite dieser alternativen Seherfahrung besteht also darin, daß die Bedeutung bevorzugter Punkte zu einem ganzheitlichen Sehen aufgelöst wird. Dieser Ausweitungs- und Auflösungsprozess wäre aber für sich allein einseitig und würde die Gefahr beinhalten, sich in diesem Vorgang zu verlieren, wie ein Schiff, das vom Wind beliebig hin und her getrieben wird. Damit das nicht passiert, wirft das Schiff einen Anker. So ist es auch bei diesem gleichzeitigen und gleichwertigen Sehen wichtig, als Ausgleich, Gegengewicht gegen den damit verbundenen Auflösungsvorgang irgendeinen Punkt zu haben, an dem der Blick ruhen, sich gewissermaßen verankern kann, die Seherfahrung eine Mitte, ein Zentrum findet.
Wählen Sie als Zentrum wirklich einen Punkt, keine Fläche! Im Prinzip wäre auch eine Fläche dazu geeignet, den Blick zu verankern. Sie hat aber gegenüber einem Punkt einen nicht unwichtigen Nachteil: Ich nehme mal als Beispiel ein bestimmtes Blatt dieser Topfpflanze hier in der Ecke. Es hat Qualitäten, eine Farbe und eine Form; es ist hellgrün und länglich-oval. Durch diese Qualitäten ist das Blatt eingeordnet in ein ganzes Netzwerk von Bedeutungen. Es gibt andere Blätter, die eine andere Form und Farbe haben, es gibt Nicht-Blätter - Zweige, Knospen, Blüten. Wenn ich meine Aufmerksamkeit auf dem Blatt ruhen lasse, wird dieses ganze Netzwerk von Bedeutungen sofort mit aktiviert. Es passiert dann leicht, dass der Geist anfängt, in diesem Netzwerk herumzuwandern.
Ein Punkt dagegen hat keine Qualitäten. Er hat weder Form noch Farbe. Es ist deshalb auch nicht eingebunden in ein Netzwerk von Bedeutungen. Er verleitet daher den Geist auch nicht zum Wandern. Es ist leichter, den Geist bei ihm ruhen zu lassen.
Dieser Punkt ist nicht wichtiger als alle anderen, es könnte im Prinzip jeder Punkt als solcher Verankerungspunkt dienen. Die Bedeutung dieses Punktes für unsere Absichten und Ziele soll ja keine Rolle spielen. Es könnte also z.B die linke untere Ecke des Bilderrahmens, der ja normalerweise recht uninteressant ist, oder der Nagel an der Wand, oder die Spitze eines Farnblatts als Ruhe- und Verankerungspunkt dienen. Es ist also unter dem Aspekt seiner Un-Wichtigkeit für unsere Interessen, Wünsche und Ziele im Prinzip jeder beliebige Punkt dazu geeignet, der Wahrnehmung die notwendige Zentrierung zu geben.
Es ist jedoch aus einem ganz anderen Grund doch wichtig, den Ruhe- und Verankerungspunkt gut auszuwählen und nicht einfach den ersten zu nehmen, der Ihnen einfällt, und zwar um so ziemlich den einzigen Fehler zu machen, den man bei dieser Übung machen kann, nämlich sich anzustrengen. Man sollte an die Übung mit der offenen Haltung herangehen, jede Erfahrung, die auftritt, anzunehmen, auch wenn sie neu und unvertraut ist. Man sollte jedoch während der ganzen Übung darauf achten, daß die Erfahrung angenehm und anstrengungslos bleibt. Und damit Sie erst einmal richtig anfangen und sich nicht schon von Anfang an ein Fehler einschleicht, ist es zunächst wichtig, daß Sie den Ruhepunkt in einem Abstand auswählen, in dem sich Ihre Augen wohl fühlen. Wählen Sie deshalb zunächst einmal mehrere Punkte draußen, außerhalb des Fensters, also in einer weiteren Entfernung und mehrere näher liegende innerhalb des Raums und probieren Sie aus, an welchem Punkt Sie mit Ihren Augen leicht und mit einem angenehmen Gefühl bleiben können! Haben Sie einen solchen Punkt gefunden? Gut.
Lassen Sie während der ganzen Übung ihren Blick an diesem Punkt ruhen! Später ist es von Vorteil, wenn Sie den Ruhepunkt auch wechseln können, weil Sie dann die Übung auf viel mehr Lebenssituationen übertragen können. Wir werden deshalb in einer Fortgeschrittenenversion der Übung auch lernen, wie Sie den Ruhepunkt verändern können, aber zunächst ist es hilfreich, wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit konstant an einem Punkt verankern. Bei einem Wechseln des Punktes würde die Ganzheitlichkeit des Sehens zu leicht zusammenbrechen. Sehen Sie deshalb gleich, auch wenn ich etwas sage, nicht zu mir herüber. Es genügt ja, wenn Sie mich hören. Ich bin ja kein gefährliches Monster, das man im Auge behalten muss. Und ich verspreche Ihnen, daß ich es Ihnen auch nicht als Unhöflichkeit ankreiden werde, wenn Sie mich beim Reden nicht ansehen.
Aufbau des ganzheitlichen Sehens
Nehmen Sie jetzt die Hände parallel so vor Ihr Gesicht, daß der Punkt, den Sie sich selbst als Ruhepunkt ausgewählt haben, zwischen den Handflächen sichtbar ist und zusätzlich ein bestimmter Ausschnitt des Raums. Ihr Blick ruht auf dem Punkt, den Sie selber als Ruhepunkt ausgewählt haben, zusätzlich nehmen Sie alles, was zwischen den Handflächen sichtbar ist, gleichzeitig und gleich wichtig wahr, ohne etwas zu bevorzugen. Es ist, als säßen Sie in einem Zug und sehen aus dem Fenster in die Landschaft. Sie nehmen dann die ganze Landschaft als Einheit wahr, nicht die einzelne Kuh, die Pappelreihe, den Zaun.
Öffnen Sie jetzt langsam, in Ihrem eigenen Tempo, die Hände, so daß ein weiterer Ausschnitt des Raums zwischen den Handflächen sichtbar wird, von den Seiten immer mehr in diesen vereinheitlichten Zwischenraum, diese Landschaft einfließt! Ihr Blick ruht dabei weiterhin auf dem von Ihnen ausgewählten Punkt. Fügen Sie das, was von außen dazukommt, immer wieder neu in diese Einheit zwischen den Handflächen ein, so dass eine sich ständig erweiternde, sich ausdehnende "Landschaft" entsteht!
Lassen Sie sich für diesen Vorgang Zeit, führen Sie ihn in ihrem persönlichen Tempo durch! Irgendwann kommen Sie in einen Zustand, in dem die Handflächen rechts und links aus Ihrem Blickfeld verschwinden. Bewegen Sie dann etwas die Finger, gehen mit den Händen etwas vor und zurück und achten darauf, wann die sich bewegenden Finger gerade noch sichtbar sind und wann sie aus dem Blickfeld verschwinden! Sie können auf diese Art und Weise sehr gut bemerken, wo die Grenzen Ihres Blickfelds liegen. Wenn Sie das sicher herausgefunden haben, können Sie die Hände jetzt auch herunternehmen. Bleiben Sie dann eine Zeit lang einfach in der Erfahrung, die Sie jetzt aufgebaut haben, in einer Art zu sehen, in dem Sie alles, was es überhaupt zu sehen gibt, gleichzeitig und gleichwertig wahrnehmen. Sie müssen jetzt nichts mehr tun. Sie müssen jetzt nichts mehr ändern. Sie können einfach alles so lassen, wie es ist. Und Sie können einfach da bleiben, wo Sie sind, in Ihrer Erfahrung.
Manche Menschen beschreiben, dass diese Art des Sehens mit anderen Erfahrungen verbunden ist, die eigentlich aus anderen Wahrnehmungsbereichen stammen, ein Vorgriff auf andere Wahrnehmungsbereiche darstellen. Eine häufige Erfahrung ist, daß gleichzeitig mit dieser Art des Sehens eine Beruhigung und Entspannung eintritt, andere berichten von einem Gefühl der Leichtigkeit und Wachheit, einige auch von einer Kombination dieser Erfahrungen, einer Ruhe, die sich leicht, nicht schwer anfühlt, einem Zustand entspannter Leichtigkeit, ruhevoller Wachheit. Nehmen auch Sie eine solche zusätzliche Erfahrung wahr? Wenn nicht, ist das auch in Ordnung. Akzeptieren Sie jede Erfahrung, die Sie machen, so, wie sie ist, solange sie angenehm und anstrengungslos bleibt.
Diese ruhevolle Wachheit, entspannte Leichtigkeit ist gewissermaßen die Gesamtqualität der Erfahrung. Wenn wir gleich die Übung um weitere Wahrnehmungsbereiche erweitern, werde ich nach dem Dazunehmen jedes neuen Wahrnehmungsbereichs kurz nachfragen, wie sich diese Gesamtqualität verändert hat. Wenn sie gleich geblieben ist oder sich sogar noch verstärkt hat, können wir einfach in der Erfahrung bleiben. Wenn sie abgenommen hat, ist das ein Grund, etwas zu verändern.
Ausweitung der Erfahrung auf das Hören
Gut, dann erweitern wir jetzt unsere Erfahrung um einen weiteren umfassenden Wahrnehmungsbereich. Zu allem, was Sie sehen können, entwickeln Sie nun auch eine offene Aufmerksamkeit für alles, was sie hören können. Das, was Sie hören können, kann aus ganz verschiedenen Richtungen kommen. Meine Stimme kommt für Sie aus einer Richtung, die Geräusche, die von draußen hereindringen, kommen aus einer anderen, beides kommt aber von außen. Etwas, was Sie hören können, kann jedoch auch von innen kommen. Ihre eigene Stimme kommt für Sie teilweise von innen, auch Geräusche aus dem Bauch, die Sie eventuell hören. Und zu allem, was Sie hören können, gehört auch eine Bereitschaft, das zu hören, wobei es scheinbar nichts zu hören gibt, die Stille in alle Richtungen. Nehmen Sie nun zu allem, was Sie sehen können, eine offene Aufmerksamkeit in alle Richtungen dazu für alles, was Sie hören können!
Ist es möglich, beide Wahrnehmungsbereiche gleichzeitig wahrzunehmen?
Wie hat sich die Qualität der ruhevollen Wachheit durch die Erweiterung der Erfahrung auf das Hören verändert. Ist sie unverändert geblieben, hat sie sich gesteigert oder abgenommen?
(Wenn sie gleich geblieben oder stärker geworden ist)
Gut. Bleiben Sie einfach in dieser Gesamtqualität der Erfahrung, dieser ruhevollen Wachheit, entspannten Leichtigkeit, die sich jetzt schon aus zwei großen Wahrnehmungsbereichen ergibt, dem ganzheitlichen Sehen, gleichzeitig und gleichwertig, und dem offenen Hören in alle Richtungen. Sie mussen nichts mehr tun. Sie müssen nichts mehr ändern. Sie könen einfach alles so lassen, wie es ist. Und Sie können einfach da bleiben, wo Sie sind, in dieser Erfahrung.
Ausweitung auf die Körperwahrnehmung
Wir nehmen jetzt einen dritten Wahrnehmungsbereich dazu, nämlich eine Wahrnehmung des Körpers als Einheit, nicht einzelner Körperteile, der Hände, der Füße, sondern als Ganzes. Fühlt sich Ihr Körper insgesamt eher locker oder angespannt, leicht oder schwer, warm oder kalt an? Einige Aspekte dieser ganzheitlichen Körperwahrnehmung hatten wir schon vorweggenommen, als ich Sie auf die im Zusammenhang mit dem Sehen auftretenden Erfahrungen aus anderen Wahrnehmungsbereichen, die entspannte Leichtigkeit, hinwies. Die Aufmerksamkeit wird nun noch bewußter auf diesen Wahrnehmungsbereich ausgedehnt.
Wie hat diese bewußtere Wahrnehmung die Qualität dieser besonderen Entspannungsform der ruhevollen Wachheit verändert? Hat sie sich gesteigert, ist sie gleich geblieben oder hat sie abgenommen?
(Wenn sie gleich geblieben oder stärker geworden ist)
Gut. Bleiben Sie einfach in dieser Gesamtqualität der Erfahrung, dieser ruhevollen Wachheit, entspannten Leichtigkeit, .....
Ausweitung auf die seelische Innenwelt
Wir nehmen jetzt einen weiteren Wahrnehmungsbereich dazu, der sich von den bisherigen Bereichen grundlegend unterscheidet. Was wir sehen, was wir hören und auch, was wir in unserem Körper spüren, nehmen wir mit den Sinnen wahr. Es gibt jedoch einen großen Wahrnehmungsbereich, der ist keine Sinneswahrnehmung: unsere Innenwelt, alles, was in unserem Bewusstsein auftaucht und abläuft als inneres Ereignis - die Gedanken, die uns kommen, Phantasien, Wunsch- und Erinnerungsbilder und die mit diesen Gedanken und Bildern verbundenen Gefühle. Wir nehmen jetzt zusätzlich zu allem, was wir sehen können, gleichzeitig und gleichwertig, zu allem, was wir hören können, offen in alle Richtungen, und zu allem, was wir im Körper als Ganzes wahrnehmen, also zu dem, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, eine offene Aufmerksamkeit auf unsere Innenwelt dazu.
Offene Aufmerksamkeit bedeutet, daß wir mit den Ereignissen, die in unserer Innenwelt ablaufen, genauso umgehen wie mit Ereignissen in der Außenwelt. Wir versuchen ja normalerweise nicht, zu verhindern, etwas in der Außenwelt (z. B ein Geräusch) wahr zu nehmen, halten diese äußere Wahrnehmung jedoch auch nicht fest, wenn sie wieder verschwindet und dadurch Platz macht für die nächste. Wir wehren uns ja nicht dagegen, zu hören, dass sich ein Auto nähert, lassen aber auch genauso zu, dass dieses Hören schwächer wird, das Geräusch leiser wird, abklingt und schließlich verklungen ist, wenn sich das Auto wieder entfernt. Wahrnehmungen in der Außenwelt lassen wir normalerweise einfach kommen und gehen. Es wäre in den meisten Fällen nicht günstig und sinnvoll, es nicht zu tun.
Genau so wehren wir uns nicht gegen einen Gedanken, ein Bild oder Gefühl, das in unserem Bewußtsein auftaucht und halten den Gedanken, das Bild, das Gefühl nicht fest, wenn er oder es wieder verschwindet.
Wir verhalten uns gegenüber den Inhalten der Innenwelt wie ein unbeteiligter Zuhörer, ein „objektiver“ Zuschauer, so als ständen wir auf einer Tribüne und sähen zu, wie vor uns eine Parade abläuft, ohne in das Geschehen vor uns einzugreifen und ohne Partei zu ergreifen. Wir beobachten nur, was in unserer Innenwelt geschieht, lassen die Ereignisse in unserer Innenwelt einfach geschehen, lassen sie kommen und gehen, wie einen Vogel, der am Himmel vorbeifliegt, ein Schiff, das auf dem Meer vorbeisegelt.
Wie hat dieses Dazunehmen der Innenwelt die Gesamtqualität der Erfahrung, die ruhevolle Wachheit, entspannte Leichtigkeit, verändert? Hat sie abgenommen, ist sie gleich geblieben, oder hat sie sich sogar noch verstärkt?
(Wenn sie gleich geblieben oder stärker geworden ist)
Gut. Bleiben Sie einfach in dieser Gesamtqualität der Erfahrung, dieser ruhevollen Wachheit, entspannten Leichtigkeit, .....
Sie haben bisher Ihre Aufmerksamkeit Schritt für Schritt erweitert, so daß Ihre Aufmerksamkeit jetzt alles umfasst, was Sie überhaupt wahrnehmen können, haben sich quasi einen alles einschließenden Aufmerksamkeitsraum geschaffen, der Ihnen gehört bzw der Sie gewissermaßen sogar sind, in dem Sie sich frei bewegen können.
Möglichkeiten, den umfassenden Aufmerksamkeitsraum zu nutzen
Dieser umfassende Aufmerksamkeitsraum enthält vielleicht auch Anteile, die Sie als störend erleben, die die Gesamtqualität der Erfahrung eher einschränken. Er bietet mehrere Möglichkeiten, mit diesen qualitätsvermindernden Aspekten umzugehen. Diese Möglichkeiten lassen sich gut am Beispiel automatisch auftretender ungünstiger Phantasien veranschaulichen.
In diesem Fall tauchen in Ihrer Innenwelt irgendwelche Vorstellungen, Gedanken, Erinnerungsbilder auf, die wenig hilfreich sind, die sich nur immer wiederholen, zu keiner Klärung oder Lösung führen, sondern sich im Kreis drehen. Das geschieht automatisch, das heißt, es laufen in Ihnen ohne ihre aktive Beteiligung Denkgewohnheiten ab.
Meistens ist es so, daß diese automatisch auftretenden Gedanken ausgesprochen negativ-pessimistisch gefärbt sind.
Sie befinden sich dann in einer Situation, als säßen Sie in einem Kino und auf der Leinwand vor Ihnen läuft ein Horrorfilm ab, der Ihnen eigentlich gar nicht gut bekommt. Sie können nicht einfach das Kino verlassen, denn das Kino ist ja in Ihnen. Sie finden aber auch nicht den Projektor, um den Film abzustellen. Nach einiger Zeit verlieren Sie sogar den Abstand zu dem Film, vergessen, daß Sie im Kino sitzen, und denken statt dessen, Sie seien der Hauptdarsteller im Film, der von einer unangenehmen Situation in die nächste gerät.
Was Ihnen in dieser Situation helfen würde, nicht völlig vom Film eingefangen zu werden, wäre, mit einem Teil Ihrer Aufmerksamkeit außerhalb des Films zu bleiben. Solange Sie sich bewusst sind, dass Sie im Kino sitzen, etwa in der 12.Reihe, daß die Wand links von Ihnen etwa 5 Meter entfernt ist und die Wand rechts etwa 10, daß in der Reihe vor Ihnen 3 andere Leute sitzen, von denen der eine, der genau vor Ihnen sitzt, so groß ist, daß sie Ihren eigenen Kopf zur einen oder anderen Seite bewegen müssen, um an ihm vorbeisehen zu können, verlieren Sie sich nicht ganz im Film.
Was Sie tun, um einen angemessenen Abstand zu den Bildern des Films aufrechtzuerhalten, ist, daß Sie dafür sorgen, dass sich die Aufmerksamkeit aufgrund der Sogwirkung der Bilder nicht auf den Film zusammenzieht, vom Film gewissermaßen aufgesaugt, absorbiert wird. Sie bleiben mit einem Teil Ihrer Aufmerksamkeit außerhalb des Films.
In ähnlicher Weise gibt Ihnen die umfassende Aufmerksamkeit, die Sie Schritt für Schritt im Verlauf der Übung aufgebaut haben, die Möglichkeit, nicht von einer „störenden“ Wahrnehmung absorbiert zu werden, da Sie als Teil in ein übergreifendes Ganzes eingefügt ist, von dem Ganzen praktisch absorbiert und kontrolliert wird. Die „störende“ Wahrnehmung erhält als Teilaspekt im umfassenden Ganzen den ihr zukommenden Stellenwert, eine angemessene Gewichtung. Sie schließen die störende Wahrnehmung nicht aus Ihrer Welt aus, sondern Sie akzeptieren und respektieren sie als Teil Ihrer Welt, nehmen sie als etwas, das auch dazugehört, als Tatsache, die nun mal existiert, in den von Ihnen konstruierten Raum hinein. Sie setzen sich nicht mit dem Inhalt der Störung auseinander, versuchen nicht, sie zu bekämpfen oder von ihr wegzukommen, ihr auszuweichen, sie zu vermeiden, sondern Sie halten einfach eine weite, offene Aufmerksamkeit bei und integrieren die „störende“ Wahrnehmung in das vereinheitlichte Ganze des Aufmerksamkeitsraums. Die Störung wird wahrgenommen, aber als eine einzelne Wahrnehmung unter vielen anderen, bekommt keine übermäßige Bedeutung, kein Gewicht, das ihr nicht zukommt.
Wenn Sie die umfassende Aufmerksamkeit auf diese Weise nutzen, können Sie noch eine weitere wichtige Erfahrung machen, nämlich dass Aufmerksamkeit Identität schafft, bestimmt, wer Sie sind. Sie sind das, was Ihre Aufmerksamkeit erfaßt. Wenn Ihre Aufmerksamkeit sich auf die Gedanken, Bilder und Gefühle zusammenzieht, die in Ihrer Innenwelt wie in einem „Heimkino“ ablaufen, identifizieren Sie sich ausschließlich mit diesen Inhalten der Innenwelt. Sie sind dann notwendigerweise gezwungen, sich mit diesen Inhalten zu beschäftigen, weil Sie ja nichts anderes sind. Wenn Sie dagegen Ihre Aufmerksamkeit erweitern, so dass sie schließlich alle möglichen Wahrnehmungsbereiche umfasst, erst als letzten Bereich nach den Bereichen der Sinneswahrnehmung auch das „Heimkino“, identifizieren Sie sich nicht mehr mit einem Teil, der Innenwelt, weil Sie die Erfahrung machen, daß Sie das Ganze sind. Sie machen jedoch nicht nur die Erfahrung, dass Sie alles zusammen das sind, was innerhalb Ihres Aufmerksamkeitsraums liegt, zu einer einzigen Ganzheit zusammengefaßt und vereinheitlicht, sondern auch die Erfahrung, dass Sie in gleichem Ausmaß alles sind, was Ihre Aufmerksamkeit erfaßt. Sie sind genau so ein Geräusch, was Sie in der Außenwelt wahrnehmen, wie ein Erinnerungsbild, das in Ihrer Innenwelt erscheint. Warum sollte der Gedanke, der automatisch in Ihnen auftritt, mehr mit Ihnen zu tun haben, als der Baum, der genauso ohne ihr Zutun vor Ihnen auftaucht?
Vielleicht machen Sie über diese Erfahrung, alles zu sein, was ihre Aufmerksamkeit erfasst, die zu einer Einheit zusammengefasste Ganzheit Ihres Aufmerksamkeitsraums, hinaus noch eine weitere Erfahrung von Identität: Dass Sie als erstes und vor allem das sind, was diese Einheit überhaupt erst schafft: Ihre Aufmerksamkeit als das, was Sie im Moment tun, die gegenwärtige Tätigkeit Ihres Geistes, die tätige Gegenwart Ihres Geistes, Geistesgegenwart. In der gewöhnlichen Erfahrung sind wir uns nur schwach oder gar nicht der Aktivität und Gegenwart unseres Geistes bewußt. Wir achten auf alles Mögliche, aber wir achten nicht darauf, wie wir darauf achten, ähnlich wie unsere Augen zwar Objekte wahrnehmen, aber nicht sich selbst. Während der Übung, die Sie jetzt durchgeführt haben, sind Sie sich jedoch von Anfang an dessen bewußt, wie Sie durch die augenblickliche Tätigkeit Ihres Geistes Ihre Wahrnehmung selbst konstruieren und produzieren. Sie merken, dass Sie es sind, die den Blick auf einem Punkt ruhen lässt, Sie merken auch, wie Sie es tun. Ebenso ist Ihnen bewusst, wie Sie ihr Sehfeld erweitern und immer wieder neu vereinheitlichen, wie Sie Ihre Aufmerksamkeit selber steuern und lenken und sich dadurch Ihre Wahrnehmungen selber schaffen und bestimmen. Diese Achtsamkeit für das, was Sie gerade jetzt tun, steigert sich, je mehr Sie Ihre Aufmerksamkeit erweitern und erreicht ihr größtes Ausmaß, wenn Ihre Aufmerksamkeit alle Wahrnehmungsbereiche umfasst.
Ruhevolle Wachheit : handlungsnahe Entspannung
Da im Zusammenhang mit dem vereinheitlichten Sehen ja oft eine gewisse Entspannung eintritt, kann man diese Übung natürlich auch als Entspannungsverfahren nutzen (Die Entspannung wird dabei nicht absichtlich angestrebt, sondern tritt als unbeabsichtigte „Nebenwirkung“ ein.)
Die Entspannung, die dabei hervorgerufen wird, unterscheidet sich dadurch von anderen Formen der Entspannung, dass sie mit Wachheit und Leichtigkeit verbunden ist. Diese Kombination entsteht dadurch, dass die Aufmerksamkeit überwiegend, mit offenen Augen, auf Außenwahrnehmungen gerichtet wird. Andere Entspanungsverfahren, bei denen die Aufmerksamkeit mit geschlossenen Augen auf die Körperwahrnehmung und/oder die Innenwelt gerichtet ist, rufen eher eine Entspannung hervor, die mit einem „unterwachen“, traumähnlichen, schläfrigen Bewusstsein und körperlicher Schwere verbunden ist.
Alle diese Entspannungsformen haben ihre Vor- und Nachteile. Der Vorteil der ruhevollen Wachheit, entspannten Leichtigkeit, die bei dieser Übung entsteht, besteht in Handlungsnähe. Sie merken sehr wahrscheinlich, dass Sie aus dem entspannten Zustand heraus, in dem Sie sich jetzt befinden, sofort aufstehen und unmittelbar handeln könnten. Das ist natürlich morgens als Vorbereitung auf die Aktivität des Tages günstig oder in Situationen, in denen sie auch in einem entspannten Zustand handlungsbereit und sofort handlungsfähig bleiben müssen. Bei anderen Entspannungsverfahren bräuchten Sie Zeit, um erst mal aus dem schläfrigen, schweren Zustand herauszufinden, wieder handlungsfähig zu werden. Mitten in der Aktivität wäre das ein Nachteil. Jedoch nicht, wenn sie abends nach der Aktivität zur Ruhe kommen und gut schlafen wollen. Wenn sie einschlafen wollen, ist es gut, wenn Sie schon schläfrig sind. Da wäre ruhevolle Wachheit ungünstig, würde Sie daran hindern, einzuschlafen.
Die Entspannung, die Sie in dieser Übung erfahren, ist die, die auch in den Kampfkünsten eingeübt wird. Vielleicht haben Sie schon mal einen Samuraifilm gesehen. Darin könnte etwa folgende Szene vorkommen: Ein japanischer Krieger sitzt, die Augen geöffnet, im Fersensitz, einer traditionellen Sitzweise Japans, in der Nähe eines Gebüschs. Neben ihm liegt griffbereit sein Schwert. Die Kameraführung schwenkt zu einer Nahaufnahme seines Gesichts. Seine Augen bewegen sich nicht, sind ruhig, dabei jedoch hellwach. Sie scheinen nicht auf etwas Bestimmtes gerichtet zu sein, sondern auf Alles gleichzeitig, weit und offen.
Man sieht dann, wie der Samurai schnell, aber nicht hastig, sich aus dem Fersensitz halb aufrichtet, das rechte Bein nach vorne zieht und den rechten Fuß aufsetzt. Dabei greift er gleichzeitig nach dem Schwert. Er geht - schnell, doch nicht hastig - ein paar Schritte in Richtung des Gebüschs. Er hebt das Schwert und macht damit einen einzigen, klar geführten Schnitt. Man hört einen Augenblick lang einen kurzen Schrei, dann ist wieder Stille. Der Samurai geht, ohne zu zögern, wieder die paar Schritte zurück, setzt sich wieder auf dem Platz, von dem er für dieses "Zwischenspiel" aufgestanden ist, in den Fersensitz, legt das Schwert wieder rechts neben sich und sitzt wieder da wie vorher, als ob nichts geschehen wäre.
Für ihn ist auch nichts geschehen. Der Samurai war, als er mit ruhevoller Wachheit im Fersensitz saß, genau in der handlungsbereiten Entspannung, die auch Sie während der Übung erfahren haben. Und er ist auch die ganze Zeit in dieser Entspannung geblieben, auch während er aufstand, sich bewegte, entschlossen handelte. Krieger üben, auch in einer angespannten Situation, die rückhaltloses Handeln erfordert, in einem Zustand ruhevoller Wachheit, entspannter Leichtigkeit zu bleiben.
Das muss man auch üben. Denn ohne Übung geht in sich ruhende Entspannung in zielstrebigen, kraftvollen Bewegungen und "spannenden" Situationen schnell und leicht verloren.
In der Fortgeschrittenenfassung der Übung gebe ich auch Ihnen die Gelegenheit, die ruhevolle Wachheit auch in der Aktivität aufrecht zu halten. Sie zunächst mal im Ruhezustand zu erfahren, ist fast allen Menschen ohne Vorbereitung möglich. Und genau das haben Sie ja gerade erfahren.
Wenn etwas schwierig ist
Wenn Sie sich beim Üben angespannt fühlen, das Üben sich anstrengend anfühlt, liegt das vielleicht daran, dass Sie sich bemühen, sich auf den Ruhepunkt zu konzentrieren, die Aufmerksamkeit bei ihm zusammenzuziehen und zu steigern, weil sie ihn wichtiger nehmen als die anderen Punkte, ihn als bevorzugten Punkt sehen. Lassen die dann mal eine Zeit lang den Verankerungspunkt weg und vereinheitlichen Sie nur das gesamte Sehfeld! Es kann sein, dass dann die Anspannung nachlässt. Wenn sie sich etwas entspannter fühlen, probieren Sie aus, den Ruhepunkt wieder dazu zu nehmen!
Die Anstrengung kann auch davon kommen, dass Sie nicht nur alles sehen, was Sie jetzt sehen können, sondern dass Sie auch versuchen, alles klar zu sehen. Mit zunehmender Übung wird Ihnen das auch gelingen. Da wir dieses ganzheitliche Sehen aber ja nicht gewohnt sind, sehen wir zu Anfang vielleicht Teile des Sehfelds unscharf. Kümmern Sie sich einfach nicht darum! Es geht bei der Übung darum, alles auf einen Blick zu sehen, nicht darum, alles klar zu sehen. Es geht darum, alles als eine Einheit, als eine Landschaft zu sehen. Auch eine Landschaft im Nebel ist eine Landschaft.
Erweitern der Übung durch Wechseln des Ruhepunktes
Ich möchte Ihnen heute eine Vorgehensweise vorstellen, durch die es Ihnen möglich ist, die ruhevolle Wachheit, die durch die Übung hervorgerufen wird, auf mehr Lebenssituationen zu übertragen. Im Moment können Sie die Übung ja nur ausführen in Situationen, in denen Sie in Ruhe irgendwo sitzen. Das liegt daran, daß Sie ja bisher den Blick kontinuierlich auf einem bestimmten Punkt ruhen lassen. Das ist jedoch in vielen Alltagssituationen, in denen Sie durch körperliche Bewegung aktiv sind, nicht möglich. Wenn Sie allerdings eine Möglichkeit hätten, den Ruhepunkt zu wechseln, könnten Sie die Übung auf weite Bereiche Ihrer Aktivität ausdehnen.
Wenn Sie das versuchen würden, würden Sie sehr wahrscheinlich die Erfahrung machen, daß die Gesamtqualität von ruhevoller Wachheit durch die mit dem Wechsel des Punktes verbundene Unruhe schnell zusammenbricht. Es gibt jedoch eine Möglichkeit, eine großen Teil der ruhevollen Wachheit aufrechtzuerhalten, auch wenn man den Punkt wechselt.
Dafür muß man nur etwas über die eigentliche Natur unseres Geistes wissen. Die eigentliche Natur unseres Geistes besteht darin, daß sich der Geist nicht bewegt. Das können Sie ganz einfach selbst erfahren, wenn Sie jetzt einmal an den Eiffelturm in Paris denken. Dann haben Sie sehr wahrscheinlich folgende Erfahrung gemacht: Ihr Geist hatte vorher sein Zentrum in dem Ruhepunkt, den Sie sich ausgewählt hatten. Er war über die ganze Wahrnehmung ausgebreitet, aber in diesem Punkt hatte er gewissermaßen einen Mittelpunkt, ein Zentrum. Vereinfachend könnte man sagen, daß der Geist sich an diesem Mittelpunkt befand. In dem Moment, wo Sie an den Eiffelturm gedacht haben, hatte der Geist sein Zentrum am Eiffelturm. Die Erfahrung, auf die es nun ankommt, ist die, daß der Geist dazu, zuerst an dem einen Punkt und dann an dem anderen zu sein, keine Zeit gebraucht hat. Der Geist geht nicht von einem Punkt zum anderen, sondern er verschwindet an einem Punkt und taucht an dem anderen wieder auf, ohne dass dazwischen Zeit verstreicht, eine Erfahrungslücke entsteht, in der Sie nicht wissen, wo der Geist sich gerade befindet. Er ist nicht unterwegs, um vom eine Ort zum anderen zu kommen. Dafür würde er Zeit brauchen. Der Geist ist hier, und ist dann da, und es gibt nichts, was dazwischen ist. Deshalb können Sie immer wissen, wo Ihr Geist gerade ist.
Während es also die eigentliche Natur unseres Geistes ist, dass er sich nicht bewegt, besteht die Natur der anderen Hauptaspekte unserer Person, unserer Seele und unseres Körpers darin, dass sie sich bewegen. Dass die Seele sich bewegt, merken Sie z. B daran, dass Gefühle manchmal schwach beginnen, sich in der Intensität steigern und schließlich wieder abflauen. Und für diese Veränderung, diese Bewegung braucht die Seele etwas Zeit. Und wenn Sie mit dem Körper dasselbe tun wollen, was Sie soeben mit dem Geist getan haben, ihn zuerst hier und dann am Eiffelturm sein zu lassen, muß der Körper sich sogar viel bewegen und braucht dafür, auch wenn Sie ein Flugzeug nehmen, viel Zeit. Der Geist bewegt sich also gar nicht und braucht deshalb keine Zeit, die Seele bewegt sich relativ schnell und braucht deshalb etwas Zeit, und der Körper bewegt sich langsam und braucht deshalb viel Zeit.
Diesen Unterschied zwischen Geist und Körper können wir nun dafür nutzen, dass die Gesamtqualität der Übung auch in der Aktivität nicht verloren geht. Wenn Sie den Ruhepunkt so wechseln, daß sich Ihr Geist nicht bewegt, auch wenn Ihr Körper sich bewegt, können Sie einen großen Teil der ruhevollen Wachheit, der entspannten Leichtigkeit aufrechterhalten.
Das liegt daran, daß auf diese Weise Ihre Erfahrung, Ihre Gesamtwahrnehmung weitgehend unverändert bleibt.
Wir wollen jetzt ausprobieren, den Ruhepunkt in dieser Weise zu verändern, und zwar in mehreren Schritten; mit jedem Schritt wird der Körper mehr einbezogen, der Unterschied zwischen Geist und Körper deutlicher erfahren. Im ersten Schritt bleiben wir zunächst nur im Geist, ohne dass der Körper in Form einer Bewegung beteiligt ist. Verankern Sie Ihren Geist dazu wieder an dem Ruhepunkt, den Sie sich selbst ausgewählt haben! Nun wählen Sie sich in dem Bereich, den Sie im Moment sehen können, einen anderen Punkt aus, der auch als Ruhepunkt dienen kann! Und nun entscheiden Sie sich dafür, dass ab sofort dieser 2. Punkt der Punkt sein soll, an dem Ihr Blick ruht, lassen Ihren Geist am ersten Ruhepunkt verschwinden und am zweiten wieder auftauchen, ohne dass Zeit dazwischen liegt! Lassen Sie anschließend den Geist wieder am ursprünglichen Ruhepunkt auftauchen und wechseln auf diese Art einige Male hin und her! Haben Sie dabei die Erfahrung gemacht, daß der Geist sich nicht bewegt?
Nun beziehen wir beim Wechsel zwischen diesen beiden Punkten einen Teil des Körpers ein, jedoch noch nicht den gesamten Körper. Zentrieren Sie ihren Geist zunächst wieder an dem ursprünglichen Ruhepunkt! Den haben Sie vermutlich so gewählt, dass er in der Mitte Ihres Sehfelds liegt, während der 2. Punkt eher am Rand des Sehfelds liegt. Lassen Sie den Geist wieder sein Zentrum wechseln, von dem Punkt in der Mitte des Sehfelds zu dem Punkt in der Peripherie! Und nun lassen Sie Ihren Körper dem Geist folgen durch eine leichte Drehung des Kopfes, so dass der neue Ruhepunkt wieder in der Mitte des Sehfelds liegt! Dabei können Sie deutlich erfahren, wie Geist und Körper normalerweise zusammenarbeiten: Der Geist wechselt zeitlos sein Zentrum, der Körper folgt dem Geist durch eine Bewegung, für die er etwas Zeit braucht, und stoppt dann da, wo der Geist schon ist. Wechseln Sie auf diese Weise einige Male zwischen beiden Punkten hin und her, und achten Sie dabei auf den Unterschied zwischen Körper und Geist! Der Geist bewegt sich nicht, braucht deshalb keine Zeit, während der Körper sich etwas bewegt und für diese Bewegung etwas Zeit braucht. Der Körper folgt dabei dem Geist so lange, bis er an dem Punkt ankommt, an dem der Geist schon ist.
Nun machen wir einen weiteren Schritt: Wählen Sie jetzt mal als neuen Ruhepunkt einen Punkt innerhalb dieses Raums aus, der außerhalb Ihres momentanen Sehfeldes liegt, den Sie im Moment nicht sehen können, von dem Sie jedoch wissen, dass es ihn gibt und wo er liegt! In dem Moment, in dem Sie diesen Punkt wählen, ist Ihr Geist schon an diesem Punkt. Und jetzt entscheiden Sie sich dafür, den Kopf so zu drehen, dass Sie diesen neuen Punkt sehen können und dieser Punkt nun als neuer Ruhepunkt dienen kann! Der Körper folgt dabei wieder dem Geist, stoppt mit seiner Bewegung da, wo der Geist schon ist.
Der letzte Schritt besteht nun daraus, daß wir nicht nur den Kopf, sondern den ganzen Körper bewegen, während gleichzeitig der Geist unbewegt bleibt. Um diese Erfahrung zu machen, suchen Sie sich mal einen Punkt in Richtung des Fensters oder auch außerhalb des Fensters! Stehen Sie dann auf und gehen in Richtung des Fensters! Gehen Sie dabei zwar langsam, aber kontinuierlich, ohne zu stoppen und eine Pause zu machen! Dabei lassen Sie den Blick auf diesem Punkt ruhen. Wenn Sie am Fenster angekommen sind, drehen Sie sich nach links und beginnen, in einem Kreis im Raum herumzugehen. Dabei können Sie natürlich von einem bestimmten Moment an den ursprünglichen Ruhepunkt nicht mehr sehen. Finden Sie dann schon vor diesem Zeitpunkt oder in diesem Moment einen neuen Ruhepunkt, bei dem Ihr Geist eine Zeit lang bleiben kann, während Sie sich auf Ihrer Kreisbahn weiterbewegen! Achten Sie wieder darauf, dass beim Wechsel des Ruhepunkts Ihr Geist sich nicht bewegt, dass er keine Zeit braucht! Wenn auch dieser neue Ruhepunkt infolge der Drehbewegung außer Sicht gerät, wählen Sie wieder einen neuen und so weiter! Sie machen dabei die klarste Erfahrung, wenn Sie sich mit Ihrem Körper zwar langsam, aber kontinuierlich bewegen, also an keiner Stelle stehenbleiben. Der Kontrast zwischen dem sich andauernd bewegenden Körper und dem sich zur selben Zeit letztlich überhaupt nicht bewegenden Geist wird dann besonders deutlich.
Halten Sie während der gesamten Bewegung ( bzw. Nicht-Bewegung) die Vereinheitlichung ihres Sehens aufrecht! Auch wenn sich das, was Sie sehen, durch die Drehbewegung natürlich ändert, können Sie es immer vereinheitlicht sehen, alles gleichzeitig und gleichwertig.
Vielleicht bemerken Sie, wie viel ruhevolle Wachheit auch in der Bewegung, auch in der Aktivität erhalten bleibt. Das liegt daran, dass viele Aspekte der Erfahrung konstant bleiben, während sich nur wenige ändern. Da der Geist sich nicht bewegt, deshalb nicht irgendwie unterwegs verloren gehen kann, hat er immer ein Zentrum, und er weiß auch immer, wo dieses Zentrum ist. Sie wissen immer, wo Ihr Geist ist. Das Einzige, was sich ändert, ist die Lage dieses Zentrums innerhalb des Sehfelds. Und dadurch, dass Sie Ihr Sehen vereinheitlichen, Sie alles gleichzeitig und gleichwertig sehen, Sie nicht innerhalb des Sehfeldes von einem Punkt zum nächsten springen, bleibt Ihr Sehfeld in einem ruhigen, stabilen Gleichgewicht. Außerdem macht Ihnen das vereinheitlichte Sehen bewusst, dass es ja immer dasselbe Sehfeld ist, dass es immer Ihr Sehen ist, dass es immer Sie sind, die sehen. Das Sehen ist ja wie ein Spiegel. Es ist immer derselbe Spiegel, es spiegelt sich auch immer alles gleichzeitig im Spiegel. Das Einzige, was sich ändert, ist das, was im Spiegel erscheint.
Auf diese Weise lässt sich die Gesamtqualität der Übung, ruhevolle Wachheit, auf fast alle Alltagssituationen ausdehnen, da es kaum eine Bewegung gibt, die zu schnell ist, um den Ruhepunkt in dieser Art zu wechseln. Vielleicht wären Sie mit der Geschwindigkeit ihrer eigenen Bewegung überfordert, wenn Sie an einem Riesenslalom bei der Winterolympiade teilnähmen. Aber meistens ist es ohne Weiteres möglich, die Übung durchzuführen. Für mich ist es immer wieder eine interessante Erfahrung, den Wechsel des Punktes beim Autofahren anzuwenden. Stellen Sie sich z. B vor, Sie fahren auf der B 57 in Richtung Kleve! Vor Ihnen fährt ein anderes Auto und es bietet sich an, eines der Rücklichter dieses Autos als Ruhepunkt zu nehmen. Nun fährt der Fahrer vor Ihnen zu langsam und Sie wollen ihn überholen. Dann passiert natürlich etwas Ähnliches wie so eben, als Sie sich hier im Kreis im Raum herum bewegten. Der Ruhepunkt verschwindet am rechten Rand aus Ihrem Sehfeld. Aber genauso wie gerade hier im Raum können Sie rechtzeitig den Ruhepunkt wechseln. Auf der Strecke nach Kleve ist auf einer weiten Strecke die Schwanenburg zu sehen. Wählen Sie einfach die Spitze des Schwanenturms als neuen Ruhepunkt. Und wenn Sie vielleicht in Qualburg rechts von der B57 abbiegen, bietet sich eventuell die Spitze der Dorfkirche an.
Dass Sie durch die Schnelligkeit Ihrer eigenen Bewegung nur in Ausnahmefällen daran gehindert werden, die Übung durchzuführen, liegt unter Anderem daran, dass Sie bei einer Bewegung, die Sie nur mit einem Teil Ihres Körpers ausführen, ja nicht gezwungen sind, den Ruhepunkt in die sich schnell ändernde Aktivität zu legen. Wenn Sie z. B auf einem Schneidebrett mit schnellen Handbewegungen Schnittlauch schneiden, wären Sie sehr wahrscheinlich damit überfordert, den Ruhepunkt mit dieser hohen Geschwindigkeit zu wechseln, wenn Sie ihn in eine Stelle ihrer arbeitenden Hand legten. Aber das müssen Sie ja nicht. Sie können den Ruhepunkt ja in die sich ja nicht bewegende Ecke einer Wandfliese darüber legen.
Den Ruhepunkt eben gerade nicht in die eigene Bewegung zu legen, sondern in einen unbewegten Punkt in der Umgebung, hat sogar noch einen zusätzlichen Vorteil: Man macht das eigene Handeln nicht zum Zentrum seiner Aufmerksamkeit, gibt ihm damit nicht jene Überbedeutung, die oft mit einem verkrampften Bemühen und anstrengender Spannung verbunden ist. Wenn das Zentrum der Aufmerksamkeit gar nicht im eigenen Handeln liegt, sondern irgendwo in der Umgebung, kann man seine Handlungen oft mit mehr Leichtigkeit und Lockerheit durchführen, wird weniger daran gebunden, verstrickt sich weniger darin; die Aufmerksamkeit verengt sich weniger auf das, was man tut, bleibt offener und weiter.
Diese Möglichkeit, durch seine Wahrnehmung weniger gebunden zu werden, kann man auch in schwierigen sozialen Situationen nutzen. Wenn Sie sich im Kontakt zu einer anderen Person befinden, der aus irgendwelchen Gründen für Sie unangenehm ist, wenn Sie z. B jemandem gegenübersitzen, vor dem Sie Angst haben oder über den Sie sich ärgern, dann müssen Sie das Zentrum Ihrer Aufmerksamkeit ja nicht in das Gesicht Ihres Gegenübers legen. Legen Sie den Ruhepunkt einfach in irgendeinen Punkt über seinem Kopf. Der Andere ist dann nicht Zentrum Ihrer Wahrnehmung, sondern Peripherie, eine Wahrnehmung unter Wahrnehmungen. Sie werden dann durch das, was Sie bei dem Anderen sehen und von ihm hören, und durch die Gefühle, die es bei Ihnen auslöst, weniger gebunden, können mehr inneren Abstand aufrechterhalten