Sorbas und Bubulina

Wenn ich die Vergangenheit loslasse und mir keine unnötigen Gedanken mehr um die Zukunft mache, öffnet sich eine Tür, die ich vorher selbst verschlossen gehalten habe: Ich kann nun voll und ganz, mit ungeteilter Hingabe und ganzem Herzen, in der Gegenwart leben.

Was das bedeutet, kommt sehr schön in einer Stelle aus „Alexis Sorbas“ von Nikos Kazantzakis zum Ausdruck:

( Damit du die Stelle richtig verstehen kannst, will ich dir, lieber Leser, jedoch zunächst ein paar Sätze zu dem Kontext sagen, in dem sie steht:

Der Ich-Erzähler des Romans hat das „Allround-Genie“ Sorbas angestellt, um auf Kreta gemeinsam mit ihm eine alte, aufgegebene Kohlenmine wieder in Betrieb zu nehmen. Sorbas, ein alter, viel-erfahrener Abenteurer und Casanova, hat sofort eine Liebesbeziehung zu der auch nicht mehr jungen Französin „Bubulina“ begonnen, die in dem kleinen Dorf ein kleines Hotel unterhält.
„Bubulina“ ist vor vielen Jahren, in der Blüte ihrer Jugend, während des griechischen Unabhängigkeitskriegs gleichzeitig die Geliebte der englischen, russischen, französische und italienischen Admiräle gewesen, die damals mit ihren Flotten gemeinsam vor Kreta lagen.
Der italienische Admiral, dessen Parfüm besonders gut roch, hatte Canavaro geheißen.
Vor einigen Tagen ist „Bubulina“ plötzlich und unerwartet an einer Lungenentzündung gestorben. Der Ich-Erzähler kommt gerade von einem Besuch in dem leeren, verwaisten Hotel zurück, das sofort nach dem Tod seiner Besitzerin von den Dorfbewohnern geplündert worden ist.)

Als er mich sah, begriff er, woher ich kam....
„Jeder Kummer, Chef“, sagte er, und es klang, als ob er sich rechtfertigen wollte, „bricht mir das Herz entzwei. Aber dieses zerfetzte, von Wunden durchsiebte Ding leimt sich sofort wieder von selbst, und die Narben sind nicht zu sehen. Ich bin von solchen zu geleimten Wunden übersät, deshalb halte ich so viel aus.“
„Du hast die unglückliche Bubulina sehr schnell vergessen“, sagte ich wider Willen mit barscher Stimme.
Sorbas fühlte sich grundlos gekränkt, er verschärfte den Ton.
„Neue Wege, neue Pläne“, rief er aus. „Bei mir ist Schluss. Ich denke nicht mehr daran, was hier gestern geschah. Ich frage nicht mehr danach, was morgen geschieht. Mich kümmert nur noch, was heute, in dieser Minute, passiert.
Ich sage: „was machst du jetzt, Sorbas?“- „Ich schlafe!“- „Dann schlafe gut!“-
„Und was machst du jetzt, Sorbas?“- „ich arbeite!“- Dann arbeite gut!“-
„Und was machst du jetzt, Sorbas?“- „Ich umarme eine Frau!“- „Dann umarme sie gut und vergiss den Rest! Es gibt nichts anderes als sie und dich auf der Welt! Also ran!“ …..... Kein Canavaro hat der alten Bubulina zu ihren Lebzeiten so viel Freude wie ich gemacht, ich, der hier mit dir spricht, der alte, zerlumpte Sorbas. Fragst du, warum? Weil alle Canavaros der Welt in der gleichen Minute, in der sie sie küssten, ihre Flotte, Kreta, ihren König oder ihre Tressen im Kopf hatten - oder ihre Frauen. Ich dagegen vergaß alles, alles, und sie, die Siebengescheite, begriff das sofort - merk dir das, du gelehrter Mann -, für die Frau gibt es kein größeres Vergnügen.“